Woyzeck (1979) FILMDIENST – Kritik

Credits

BuchWerner Herzog
DarstellerKlaus Kinski (Woyzeck) 
Eva Mattes (Marie) 
Wolfgang Reichmann (Hauptmann) 
Willy Semmelrogge (Doktor) 
Josef Bierbichler (Tambourmajor) 
Volker Prechtel
Dauer81
Jahr1979
KameraJörg Schmidt-Reitwein
ProduktionslandBR Deutschland
MusikFiedelquartett Telc, u.a.
ProduktionHerzog
ProduzentWerner Herzog
RegieWerner Herzog
SchnittBeate Mainka-Jellinghaus
VerleihFilmverlag der Autoren
FD-Ausgabe12/1979

Inhalt

Weithin vorlagegetreue Verfilmung des berühmten Dramenfragments. Herzog bleibt mit der Wahl des Stoffes einem Grundzug seiner Filme, dem Interesse an und dem Plädoyer für die isolierte und leidende Kreatur, treu. Exzellente schauspielerische Leistungen können allerdings kaum mit der Enttäuschung darüber versöhnen, daß diese „Woyzeck“-Vision allzu stilisiert und damit auch weithin unfilmisch-blutleer ist.

Kritik

Innerhalb der Geschichte des deutschen Dramas markiert das zu Lebzeiten Georg Büchners nicht aufgeführte, da unvollendete Stück „Woyzeck“ den Beginn des sozialen Dramas. Mit der Gestalt des Franz Woyzeck wurde dem Theater ein gänzlich neuer Typus zugeführt; selbst im Bürgerlichen Trauerspiel war dem in der sozialen Hierachie ganz unten Existierenden mehr als marginale Funktion nie zugestanden worden. Das erst 1879 veröffentlichte Fragment beeindruckte Publikum und Künstler enorm: Heute gilt „Woyzeck“ als meistgespieltes Theaterstück des 19. Jahrhunderts, an dem sich immer wieder die inszenatorische Phantasie der jüngsten wie der arriviertesten Bühnenregisseure versucht. Gründe sind neben anderen insbesondere die aus dem Fragmentarischen erwachsende Lapidarität, das nach wie vor ungeklärte Motivationsgeflecht des Stücks und das Interesse an der Hauptfigur. In dieser wird auf die unterdrückte, die „kurzgehaltene“ Schicht derer gezeigt, die dienend ausgenutzt und zum Objekt nüchtern-zynischer Untersuchung dessen werden, was der Gattung Mensch eigentlich zugetraut und zugemutet werden kann.

Von solch revolutionärer Bedeutung wie zur Zeit Büchners für das deutsche Drama und auch noch vor dem Ersten Weltkrieg zur Zeit der ersten Aufführung (München 1913) für das geistige Klima im Vorkriegsdeutschland und -europa ist der Stoff heute sicherlich nicht mehr. Das soziale Drama ist seit dem Naturalismus vielfältig und intensiv weiterentwickelt worden. Insofern schockiert die Tatsache des Interesses am „Unterschicht“-Milieu heute nicht. Gerade dies kann die Faszination für Herzog ausgemacht haben, der nicht an der historischen Figur der Kriminalgeschichte Franz Woyzecks und nicht an der quasi-historischen Gestalt des Theatertypus Woyzeck interessiert ist. Woyzeck ist mittlerweile Symbolfigur geworden für Unmenschlichkeit schlechthin. Unterdrückung und Knechtung der wehrlosen Kreatur wird in der Person Woyzecks angeprangert. Schon zu Beginn der Filmerzählung wird der ausgemergelte und japsende Soldat Woyzeck beim „Geschliffenwerden“ gezeigt: Das Ende der Sequenz und damit Grundthema überhaupt für dessen Geschichte ist der Stiefel, der den erschöpft Daliegenden noch in den Staub tritt. Sein Hauptmann amüsiert sich über ihn. Der Arzt experimentiert an ihm herum. Marie, mit der er ein Kind hat, ist offen auch für das Interesse anderer Männer. Der Tambourmajor sticht Woyzeck aus. Woyzeck ist Getriebener, Gehetzter, Aufgestachelter. Er wird in den Mord an Marie getrieben und sucht dann selbst den Tod.

Solches Schicksal derer da unten erinnert an „Stroszek“, an Kaspar Hauser („Jeder für sich und Gott gegen alle“), an die Behinderten, die Blinden und Taubstummen aus frühen Filmen Herzogs. Aus grundsätzlichem, humanitärem Interesse wird „Woyzeck“ als klassischer Stoff herangezogen: Zu jeder Zeit wird „Woyzeck“ aufklärerisch und anklägerisch wirken. Dafür hat Herzog allerdings einen fast zu „schönen“ Film geschaffen. Das Städtchen in der Tschechoslowakei, das er als Hintergrund wählte, ist eine Bilderbuchkulisse von großem (optischen und städtebaulichem) Reiz. Außer den Vorspann-Sequenzen weist nahezu nichts auf die deprimierende Soldatenexistenz Woyzecks hin. Der Jahrmarkt bleibt unwirklich, weil er aus zu wenigen Menschen besteht. Die Kneipenszene erinnert mehr an stilisierte Liebhaberaufführungen denn an lebensvolle Wirklichkeit von Bierdunst und Tänzerschweiß. Auch die Zeitlupenphase gegen Ende des Dramas zitiert mehr – hier aus filmtechnischer Tradition -, als daß sie eine neue Dimension von schrecklicher Wirklichkeit schüfe. So liefert Herzog einen Theaterfilm von erstaunlicher Textauthentizität, in dem kaum mehr Personen agieren als auf jeder Woyzeck-Bühne. Allerdings werden diese von hervorragenden Schauspielern dargestellt: Klaus Kinski und die in Cannes für die Rolle der Marie ausgezeichnete Eva Mattes ragen besonders heraus. Wenn dieser Film verstanden wird als Möglichkeit, den Bühnenstoff auch theaterfernem Publikum zu vermitteln, so kann von einem hervorragenden Unternehmen gesprochen werden. Wer nach einer filmspezifischen Erweiterung der Bühnendimension von „Woyzeck“ sucht, wird gründlich enttäuscht.

AutorReinhold Jacobi

Woyzeck (1979)

siehe auch

Personen

Quellenangabe: Eintrag „Woyzeck (1979)“ in Munzinger Online/Film – Kritiken aus dem FILMDIENST, URL: http://www.munzinger.de/document/10000022044 (abgerufen von Verbund der Öffentlichen Bibliotheken Berlins am 30.3.2019)

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