Full text of „Woyzeck“

Woyzeck

Georg Buechner

Vorbemerkung

Dieses Stueck ist ein Fragment. Es gibt keine einzig richtige
Reihenfolge der einzelnen Szenen, denn sie sind weder nummeriert noch
in Akte aufgeteilt.

Die hier vorliegende Reihenfolge stimmt mit der Verfilmung mit
Klaus Kinski in der Hauptrolle ueberein, vom Ende vielleicht einmal
abgesehen.

Das Stueck spielt in Darmstadt, die Figuren sprechen groesstenteils
in dortigem Dialekt. Deshalb haben im Hochdeutschen grammatikalisch
falsche Konstruktionen hier seine Richtigkeit.

Personen

Woyzeck
Marie
Hauptmann
Doktor
Tamboumajour
Unteroffizier
Andres
Margret
Budenbesitzer
Marktschreier
Alter Mann mit Leierkasten
Jude
Wirt
Erster Handwerksbursch
Zweiter Handwerksbursch
Kaethe
Narr Karl
Grossmutter
Erstes, zweites, drittes Kind
erste, zweite Person
Polizeikommissar

Soldaten. Studenten. Burschen und Maedchen
Kinder. Volk

Woyzeck

    Beim Hauptmann

[Hauptmann auf dem Stuhl, Woyzeck rasiert ihn.]

HAUPTMANN: Langsam, Woyzeck, langsam; eins nach dem andern! Er macht
mir ganz schwindlig. Was soll ich dann mit den 10 Minuten anfangen,
die Er heut zu frueh fertig wird? Woyzeck, bedenk Er, Er hat
noch seine schoenen dreissig Jahr zu leben, dreissig Jahr! Macht
dreihundertsechzig Monate! und Tage! Stunden! Minuten! Was will Er
denn mit der ungeheuren Zeit all anfangen? Teil Er sich ein, Woyzeck!

WOYZECK: Jawohl, Herr Hauptmann.

HAUPTMANN: Es wird mir ganz angst um die Welt, wenn ich an die
Ewigkeit denke. Beschaeftigung, Woyzeck, Beschaeftigung! Ewig: das ist
ewig, das ist ewig – das siehst du ein; nur ist es aber wieder nicht
ewig, und das ist ein Augenblick, ja ein Augenblick – Woyzeck, es
schaudert mich, wenn ich denke, dass sich die Welt in einem Tag
herumdreht. Was ’n Zeitverschwendung! Wo soll das hinaus? Woyzeck, ich
kann kein Muehlrad mehr sehen, oder ich werd melancholisch.

WOYZECK: Jawohl, Herr Hauptmann.

HAUPTMANN: Woyzeck, Er sieht immer so verhetzt aus! Ein guter Mensch
tut das nicht, ein guter Mensch, der sein gutes Gewissen hat. – Red er
doch was Woyzeck! Was ist heut fuer Wetter?

WOYZECK: Schlimm, Herr Hauptmann, schlimm: Wind!

HAUPTMANN: Ich spuer’s schon. ’s ist so was Geschwindes draussen: so
ein Wind macht mir den Effekt wie eine Maus. – [Pfiffig:] Ich glaub‘,
wir haben so was aus Sued-Nord?

WOYZECK: Jawohl, Herr Hauptmann.

HAUPTMANN: Ha, ha ha! Sued-Nord! Ha, ha, ha! Oh, Er ist dumm, ganz
abscheulich dumm! – [Geruehrt:] Woyzeck, Er ist ein guter Mensch
–aber– [Mit Wuerde:] Woyzeck, Er hat keine Moral! Moral, das ist,
wenn man moralisch ist, versteht Er. Es ist ein gutes Wort. Er hat
ein Kind ohne den Segen der Kirche, wie unser hocherwuerdiger Herr
Garnisionsprediger sagt – ohne den Segen der Kirche, es ist ist nicht
von mir.

WOYZECK: Herr Hauptmann, der liebe Gott wird den armen Wurm nicht drum
ansehen, ob das Amen drueber gesagt ist, eh er gemacht wurde. Der Herr
sprach: Lasset die Kleinen zu mir kommen.

HAUPTMANN: Was sagt Er da? Was ist das fuer eine kuriose Antwort? Er
macht mich ganz konfus mit seiner Antwort. Wenn ich sag‘: Er, so mein‘
ich Ihn, Ihn –

WOYZECK: Wir arme Leut – Sehn Sie, Herr Hauptmann: Geld, Geld! Wer
kein Geld hat – Da setz einmal eines seinesgleichen auf die Moral
in der Welt! Man hat auch sein Fleisch und Blut. Unsereins ist doch
einmal unselig in der und der andern Welt. Ich glaub‘, wenn wir in
Himmel kaemen, so muessten wir donnern helfen.

HAUPTMANN: Woyzeck, Er hat keine Tugend! Er ist kein tugendhafter
Mensch! Fleisch und Blut? Wenn ich am Fenster lieg‘, wenn’s geregnet
hat, und den weissen Struempfen nachseh‘, wie sie ueber die Gassen
springen – verdammt, Woyzeck, da kommt mir die Liebe! Ich hab‘ auch
Fleisch und Blut. Aber, Woyzeck, die Tugend! Die Tugend! Wie sollte
ich dann die Zeit rumbringen? Ich sag‘ mir immer: du bist ein
tugendhafter Mensch – [geruehrt:] -, ein guter Mensch, ein guter
Mensch.

WOYZECK: Ja, Herr Hauptmann, die Tugend – ich hab’s noch nit so aus.
Sehn Sie: wir gemeine Leut, das hat keine Tugend, es kommt nur so
die Natur; aber wenn ich ein Herr waer und haett‘ ein‘ Hut und eine
Uhr und eine Anglaise und koennt‘ vornehm rede, ich wollt‘ schon
tugendhaft sein. Es muss was Schoenes sein um die Tugend, Herr
Hauptmann. Aber ich bin ein armer Kerl!

HAUPTMANN: Gut, Woyzeck. Du bist ein guter Mensch, ein guter Mensch.
Aber du denkst zuviel, das zehrt; du siehst immer so verhetzt aus. –
Der Diskurs hat mich ganz angegriffen. Geh jetzt, und renn nicht so;
langsam, huebsch langsam die Strasse hinunter!

    Freies Feld, die Stadt in der Ferne

[Woyzeck und Andres schneiden Stecken im Gebuesch. Andres pfeift.]

WOYZECK: Ja, Andres, der Platz ist verflucht. Siehst Du den lichten
Streif da ueber das Gras hin, wo die Schwaemme so nachwachsen? Da
rollt abends der Kopf. Es hob ihn einmal einer auf, er meint‘, es waer
ein Igel: drei Tag und drei Naecht, er lag auf den Hobelspaenen. –
[Leise:] Andres, das waren die Freimaurer! Ich hab’s, die Freimaurer!

ANDRES [singt]:
Sassen dort zwei Hasen,
frassen ab das gruene, gruene Gras…

WOYZECK: Still: Hoerst du’s, Andres? Hoerst du’s? Es geht was!

ANDRES:
Frassen ab das gruene, gruene Gras…
bis auf den gruenen Rasen.

WOYZECK: Es geht hinter mir, unter mir. – [Stampft auf den Boden:]
Hohl, hoerst Du? Alles hohl da unten! Die Freimaurer!

ANDRES: Ich fuercht‘ mich.

WOYZECK: ’s ist so kurios still. Man moecht‘ den Atem halten. –
Andres!

ANDRES: Was?

WOYZECK: Red was! – [Starrt in die Gegend.] – Andres, wie hell! Ueber
der Stadt is alles Glut! Ein Feuer faehrt um den Himmel und ein Getoes
herunter wie Posaunen. Wie’s heraufzieht! – Fort! Sieh nicht hinter
dich! – [Reisst ihn ins Gebuesch.]

ANDRES [nach einer Pause]: Woyzeck, hoerst du’s noch?

WOYZECK: Still, alles still, als waer‘ die Welt tot.

ANDRES: Hoerst du? Sie trommeln drin. Wir muessen fort!

    Die Stadt

[Marie mit ihrem Kind am Fenster. Margret. Der Zapfenstreich geht
vorbei, der Tambourmajor voran.]

MARIE [das Kind wippend auf dem Arm]: He, Bub! Sa ra ra ra! Hoerst? Da
kommen Sie!

MARGRET: Was ein Mann, wie ein Baum!

MARIE: Er steht auf seinen Fuessen wie ein Loew.

[Tambourmajor gruesst.]

MARGRET: Ei, was freundliche Auge, Frau Nachbarin! So was is man an
ihr nit gewoehnt.

MARIE [singt]: Soldaten, das sind schoene Bursch …

MARGRET: Ihre Auge glaenze ja noch –

MARIE: Und wenn! Trag Sie Ihr Aug zum Jud, und lass Sie sie putze;
vielleicht glaenze sie noch, dass man sie fuer zwei Knoepfe verkaufen
koennt.

MARGRET: Was, Sie? Sie? Frau Jungfer! Ich bin eine honette Person,
aber Sie, es weiss jeder, Sie guckt sieben Paar lederne Hose durch!

MARIE: Luder! – [Schlaegt das Fenster durch.] – Komm, mei Bub! Was die
Leute wolle. Bist doch nur ein arm Hurenkind und machst deiner Mutter
Freud mit deim unehrlichen Gesicht! Sa! sa! – [Singt]
Maedel, was fangst Du jetzt an?
Hast ein klein Kind und kein‘ Mann!
Ei, was frag‘ ich danach?
Sing‘ ich die ganze Nacht
heio, popeio, mei Bu, juchhe!
Gibt mir kein Mensch nix dazu.

[Es klopft am Fenster.]

MARIE: Wer da? Bist du’s, Franz? Komm herein!

WOYZECK: Kann nit. Muss zum Verles‘.

MARIE: Hast du Stecken geschnitten fuer den Hauptmann?

WOYZECK: Ja, Marie.

MARIE: Was hast du, Franz? Du siehst so verstoert.

WOYZECK [geheimnisvoll]: Marie, es war wieder was, viel – steht nicht
geschrieben: Und sie, da ging ein Rauch vom Land, wie der Rauch vom
Ofen?

MARIE: Mann!

WOYZECK: Es ist hinter mir hergangen bis vor die Stadt. Etwas, was
wir nicht fassen, begreifen, was uns von Sinnen bringt. Was soll das
werden?

MARIE: Franz!

WOYZECK: Ich muss fort. – Heut abend auf die Mess! Ich hab wieder
gespart. – [Er geht.]

MARIE: Der Mann! So vergeistert. Er hat sein Kind nicht angesehn!
Er schnappt noch ueber mit den Gedanken! – Was bist so still, Bub?
Furchtest dich? Es wird so dunkel; man meint, man waer‘ blind. Sonst
scheint als die Latern herein. Ich halt’s nit aus; es schauert mich! –
[Geht ab.]

    Buden. Lichter. Volk

ALTER MANN [singt und Kind tanzt zum Leierkasten]:
Auf der Welt ist kein Bestand,
Wir muessen alle sterben,
das ist uns wohlbekannt.

WOYZECK: Hei, Hopsa’s! – Armer Mann, alter Mann! Armes Kind, junges
Kind! Sorgen und Feste!

MARIE: Mensch, sind noch die Narrn von Verstande, dann ist man selbst
ein Narr. – Komische Welt! Schoene Welt!

[Beide gehn weiter zum Marktschreier.]

MARKTSCHREIER [vor seiner Bude mit seiner Frau in Hosen und einem
kostuemierten Affen]: Meine Herren, meine Herren! Sehn Sie die
Kreatur, wie sie Gott gemacht: nix, gar nix. Sehn Sie jetzt die Kunst:
geht aufrecht, hat Rock und Hosen, hat ein‘ Saebel! Der Aff ist
Soldat; s‘ ist noch nicht viel, unterste Stuf von menschliche
Geschlecht. Ho! Mach Kompliment! So – bist Baron. Gib Kuss! – [Er
trompetet:] Wicht ist musikalisch. – Meine Herren, hier ist zu sehen
das astronomische Pferd und die kleine Kanaillevoegele. Sind Favorit
von alle gekroente Haeupter Europas, verkuendigen den Leuten alles:
wie alt, wieviel Kinder, was fuer Krankheit. Die Repraesentationen
anfangen! Es wird sogleich sein Commencement von Commencement.

WOYZECK: Willst Du?

MARIE: Meinetwegen. Das muss schoen Ding sein. Was der Mensch Quasten
hat! Und die Frau Hosen!

[Beide gehn in die Bude.]

TAMBOURMAJOR: Halt, jetzt! Siehst du sie! Was ein Weibsbild!

UNTEROFFIZIER: Teufel! Zum Fortpflanzen von Kuerassierregimentern!

TAMBOURMAJOR: Und zur Zucht von Tambourmajors!

UNTEROFFIZIER: Wie sie den Kopf traegt! Man meint, das schwarze Haar
muesst‘ sie abwaerts ziehn wie ein Gewicht. Und Augen –

TAMBOURMAJOR: Als ob man in ein‘ Ziehbrunnen oder zu einem Schornstein
hinunter guckt. Fort, hintendrein! –

    Das Innere der hellerleuchteten Bude

MARIE: Was Licht!

WOYZECK: Ja, Marie, schwarze Katzen mit feurigen Augen. Hei, was ein
Abend!

DER BUDENBESITZER [ein Pferd vorfuehrend]: Zeig dein Talent! Zeig
deine viehische Vernuenftigkeit! Beschaeme die menschliche Sozietaet!
Meine Herren, dies Tier, was Sie da sehn, Schwanz am Leib, auf seine
vier Hufe, ist Mitglied von alle gelehrt Sozietaet, ist Professor
an unsre Universitaet, wo die Studente bei ihm reiten und schlagen
lernen. – Das war einfacher Verstand. Denk jetzt mit der doppelten
Raison! Was machst du, wann du mit der doppelten Raison denkst? Ist
unter der gelehrten Societe da ein Esel? – [Der Gaul schuettelt den
Kopf.] – Sehn Sie jetzt die doppelte Raison? Das ist Viehsionomik. Ja,
das ist kein viehdummes Individuum, das ist ein Person, ein Mensch,
ein tierischer Mensch – und doch ein Vieh, ein Bete. – [Das Pferd
fuehrt sich ungebuehrlich auf.] – So, beschaeme die Societe. Sehn Sie,
das Vieh ist noch Natur, unideale Natur! Lernen Sie bei ihm! Fragen
Sie den Arzt, es ist sonst hoechst schaedlich! Das hat geheissen:
Mensch, sei natuerlich! Du bist geschaffen aus Staub, Sand, Dreck.
Willst du mehr sein als Staub, Sand, Dreck? – Sehn Sie, was Vernunft:
es kann rechnen und kann doch nit an den Fingern herzaehlen.
Warum? Kann sich nur nit ausdruecken, nur nit explizieren, ist ein
verwandelter Mensch. Sag den Herren, wieviel Uhr ist es! Wer von den
Herren und Damen hat ein Uhr? ein Uhr?

UNTEROFFIZIER: Eine Uhr? – [Zieht grossartig und gemessen eine Uhr aus
der Tasche:] Da, mein Herr!

MARIE: Das muss ich sehn. – [Sie klettert auf den ersten Platz;
Unteroffizier hilft ihr.]

TAMBOURMAJOR: Das ist ein Weibsbild.

    Mariens Kammer

MARIE [sitzt, ihr Kind auf dem Schoss, ein Stueckchen Spiegel in
der Hand]: Der andre hat ihm befohlen, und er hat gehen muessen! –
[Bespiegelt sich:] Was die Steine glaenzen! Was sind’s fuer? Was hat
er gesagt? – – Schlaf, Bub! Drueck die Augen zu, fest! – [Das Kind
versteckt die Augen hinter den Haenden.] – Noch fester! Bleib so –
still, oder er holt dich! – [Singt:]
Maedel, mach’s Ladel zu
’s kommt e Zigeunerbu,
fuehrt dich an deiner Hand
fort ins Zigeunerland.
[Spiegelt sich wieder.] – ’s ist gewiss Gold! Wie wird mir’s beim
Tanzen stehen? Unsereins hat nur ein Eckchen in der Welt und ein
Stueck Spiegel, und doch hab ich ein‘ so roten Mund als die grossen
Madamen mit ihrem Spiegeln von oben bis unten und ihren schoenen
Herrn, die ihnen die Haend kuessen. Ich bin nur ein arm Weibsbild!

  • [Das Kind richtet sich auf.] – Still, Bub, die Augen zu! Das
    Schlafengelchen! Wie’s an der Wand laeuft. – [Sie blinkt ihm mit dem
    Glas:] Die Auge zu, oder es sieht dir hinein, dass du blind wirst!

[Woyzeck tritt herein, hinter sie. Sie faehrt auf, mit den Haenden
nach den Ohren.]

WOYZECK: Was hast du?

MARIE: Nix.

WOYZECK: Unter deinen Fingern glaenzt’s ja.

MARIE: Ein Ohrringlein; hab’s gefunden.

WOYZECK: Ich hab‘ so noch nix gefunden, zwei auf einmal!

MARIE: Bin ich ein Mensch?

WOYZECK: ’s ist gut, Marie. – Was der Bub schlaeft! Greif ihm unters
Aermchen, der Stuhl drueckt ihn. Die hellen Tropfen stehn ihm auf der
Stirn; alles Arbeit unter der Sonn, sogar Schweiss im Schlaf. Wir
arme Leut! – Da ist wieder Geld, Marie; die Loehnung und was von meim
Hauptmann.

MARIE: Gott vergelt’s, Franz.

WOYZECK: Ich muss fort. Heut abend, Marie! Adies!

MARIE [allein, nach einer Pause]: Ich bin doch ein schlechter Mensch!
Ich koennt‘ mich erstechen. – Ach, was Welt! Geht doch alle zum
Teufel, Mann und Weib! Vorige Seite Naechste Seite

    Beim Doktor

[Woyzeck. Der Doktor.]

DOKTOR: Was erleb‘ ich, Woyzeck? Ein Mann von Wort!

WOYZECK: Was denn, Herr Doktor?

DOKTOR: Ich hab’s gesehn, Woyzeck; er hat auf die Strass gepisst, an
die Wand gepisst, wie ein Hund. – Und doch drei Groschen taeglich und
die Kost! Woyzeck, das ist schlecht; die Welt wird schlecht, sehr
schlecht!

WOYZECK: Aber, Herr Doktor, wenn einem die Natur kommt.

DOKTOR: Die Natur kommt, die Natur kommt! Die Natur! Hab‘ ich nicht
nachgewiesen, dass der Musculus constrictor vesicae dem Willen
unterworfen ist? Die Natur! Woyzeck, der Mensch ist frei, in dem
Menschen verklaert sich die Individualitaet zur Freiheit. – Den Harn
nicht halten koennen! – [Schuettelt den Kopf, legt die Haende auf den
Ruecken und geht auf und ab.] – Hat Er schon seine Erbsen gegessen,
Woyzeck? Nichts als Erbsen, cruciferae, merk Er sich’s! Es gibt eine
Revolution in der Wissenschaft, ich sprenge sie in die Luft. Harnstoff
0,10, salzsaures Ammonium, Hyperoxydul – Woyzeck, muss Er nicht wieder
pissen? Geh Er einmal hinein und probier Er’s!

WOYZECK: Ich kann nit, Herr Doktor.

DOKTOR [mit Affekt]: Aber an die Wand pissen! Ich hab’s schriftlich,
den Akkord in der Hand! – Ich hab’s gesehen, mit diesen Augen
gesehen; ich steckt‘ grade die Nase zum Fenster hinaus und liess die
Sonnenstrahlen hineinfallen, um das Niesen zu beobachten. – [Tritt auf
ihn los:] Nein, Woyzeck, ich aergre mich nicht; Aerger ist ungesund,
ist unwissenschaftlich. Ich bin ruhig, ganz ruhig; mein Puls hat
seine gewoehnlichen sechzig, und ich sag’s Ihm mit der groessten
Kaltbluetigkeit. Behuete, wer wird sich ueber einen Menschen aergern,
ein‘ Mensch! Wenn es noch ein Proteus waere, der einem krepiert! Aber,
Woyzeck, Er haette nicht an die Wand pissen sollen –

WOYZECK: Sehn Sie, Herr Doktor, manchmal hat einer so ‚en Charakter,
so ’ne Struktur. – Aber mit der Natur ist’s was anders, sehn Sie; mit
der Natur – [er kracht mit den Fingern] -, das is so was, wie soll ich
sagen, zum Beispiel …

DOKTOR: Woyzeck, Er philosophiert wieder.

WOYZECK [vertraulich]: Herr Doktor, haben Sie schon was von der
doppelten Natur gesehn? Wenn die Sonn in Mattag steht und es ist, als
ging‘ die Welt in Feuer auf, hat schon eine fuerchterliche Stimme zu
mir geredt!

DOKTOR: Woyzeck, Er hat eine Aberratio.

WOYZECK [legt den Finger auf die Nase]: Die Schwaemme, Herr Doktor,
da, da steckt’s. Haben Sie schon gesehn, in was fuer Figuren die
Schwaemme auf dem Boden wachsen? Wer das lesen koennt!

DOKTOR: Woyzeck, Er hat die schoenste Aberratio mentalis partialis,
die zweite Spezies, sehr schoen ausgepraegt. Woyzeck, Er kriegt
Zulage! Zweite Spezies: fixe Idee mit allgemein vernuenftigem Zustand.

  • Er tut noch alles wie sonst? Rasiert seinen Hauptmann?

WOYZECK: Jawohl.

DOKTOR: Isst seine Erbsen?

WOYZECK: Immer ordentlich, Herr Doktor. Das Geld fuer die Menage
kriegt meine Frau.

DOKTOR: Tut seinen Dienst?

WOYZECK: Jawohl.

DOKTOR: Er ist ein interessanter Kasus. Subjekt Woyzeck, Er kriegt
Zulage, halt Er sich brav. Zeig Er seinen Puls. Ja.

    Mariens Kammer

[Marie. Tambourmajor.]

TAMBOURMAJOR: Marie!

MARIE [ihn ansehennd, mit Ausdruck]: Geh einmal vor dich hin! Ueber
die Brust wie ein Rind und ein Bart wie ein Loew. So ist keiner! – Ich
bin stolz vor allen Weibern!

TAMBOURMAJOR: Wenn ich am Sonntag erst den grossen Federbusch hab‘ und
die weisse Handschuh, Donnerwetter! Der Prinz sagt immer: Mensch, Er
ist ein Kerl.

MARIE [spoettisch]: Ach was! – [Tritt vor ihn hin:] Mann!

TAMBOURMAJOR: Und du bist auch ein Weibsbild! Sapperment, wir wollen
eine Zucht Tambourmajors anlegen. He? – [Er umfasst sie.]

MARIE [verstimmt]: Lass mich!

TAMBOURMAJOR: Wild Tier!

MARIE [heftig]: Ruehr mich an!

TAMBOURMAJOR: Sieht dir der Teufel aus den Augen?

MARIE: Meinetwegen! Es ist alles eins!

    Strasse

[Hauptmann. Doktor. Hauptmann keucht die Strasse herunter, haelt an;
keucht, sieht sich um.]

HAUPTMANN: Herr Doktor, rennen Sie nicht so! Rudern Sie mir Ihrem
Stock nicht so in der Luft! Sie hetzen sich ja hinter dem Tod drein.
Ein guter Mensch, der sein gutes Gewissen hat, geht nicht so schnell.
Ein guter Mensch – [Er erwischt den Doktor am Rock:] Herr Doktor,
erlauben Sie, dass ich ein Menschenleben rette!

DOKTOR: Pressiert, hh, pressiert!

HAUPTMANN: Herr Doktor, ich bin so schwermuetig, ich habe so was
Schwaermerisches; ich muss immer weinen, wenn ich meinen Rock an der
Wand haengen sehen -.

DOKTOR: Hm! Aufgedunsen, fett, dicker Hals: apoplektische
Konstitution. Ja, Herr Hauptmann, Sie koennen eine Apoplexia cerebri
kriegen; Sie koennen sie aber vielleicht auch nur auf der einen Seite
bekommen und auf der einen gelaehmt sein, oder aber Sie koennen im
besten Fall geistig gelaehmt werden und nur fort vegetieren: das sind
so ohgefaehr Ihre Aussichten auf die naechsten vier Wochen! Uebrigens
kann ich Sie versichern, dass Sie einen von den interessanten Faellen
abgeben, und wenn Gott will, dass Ihre Zunge zum Teil gelaehmt wird,
so machen wir unsterbliche Experimente.

HAUPTMANN: Herr Doktor, erschrecken Sie mich nicht! Es sind schon
Leute am Schreck gestorben, am blossen hellen Schreck. – Ich sehe
schon die Leute mit den Zitronen in den Haenden; aber sie werden
sagen, er war ein guter Mensch, ein guter Mensch – Teufel Sargnagel!

DOKTOR [haelt ihm den Hut hin]: Was ist das, hh? – Das ist ein
Hohlkopf, geehrtester Herr Exerzierzagel!

HAUPTMANN [macht eine Falte]: Was ist das, Herr Doktor? – Das ist
Einfalt, bester Herr Sargnagel! Haehaehae! Aber nichts fuer ungut! Ich
bin ein guter Mensch, aber ich kann auch, wenn ich will, Herr Doktor,
haehaehae, wenn ich will … – [Woyzeck kommt und will vorbeieilen]

  • He, Woyzeck, was hetzt Er sich so an uns vorbei. Bleib er doch,
    Woyzeck! Er laeuft ja wie ein offnes Rasiermesser durch die Welt, man
    schneidt sich an Ihm; Er laeuft, als haett er ein Regiment Kastrierte
    zu rasieren und wuerde gehenkt ueber dem laengsten Haar noch vor dem
    Verschwinden. Aber, ueber die langen Baerte – was wollt‘ ich doch
    sagen? Woyzeck: die langen Baerte …

DOKTOR: Ein langer Bart unter dem Kinn, schon Plinius spricht davon,
man muesst es den Soldaten abgewoehnen …

HAUPTMANN [faehrt fort]: Ha, ueber die langen Baerte! Wie is, Woyzeck,
hat Er noch nicht ein Haar aus einem Bart in seiner Schuessel
gefunden? He, Er versteht mich doch? Ein Haar eines Menschen, vom Bart
eines Sapeurs, eines Unteroffiziers, eines – eines Tambourmajors? He,
Woyzeck? Aber Er hat eine brave Frau. Geht Ihm nicht wie andern.

WOYZECK: Jawohl! Was wollen Sie sagen, Herr Hauptmann?

HAUPTMANN: Was der Kerl ein Gesicht macht! … Vielleicht nun auch
nicht in der Suppe, aber wenn Er sich eilt und um die Eck geht, so
kann er vielleicht noch auf ein Paar Lippen eins finden. Ein Paar
Lippen, Woyzeck. Kerl, Er ist ja kreideweiss!

WOYZECK: hh, ich bin ein armer Teufel – und hab’s sonst nichts auf der
Welt. hh, wenn Sie Spass machen –

HAUPTMANN: Spass ich? Dass dich Spass, Kerl!

DOKTOR: Den Puls, Woyzeck, den Puls! – Klein, hart, huepfend,
unregelmaessig.

WOYZECK: hh, die Erd is hoellenheiss – mir eiskalt, eiskalt – Die
Hoelle is kalt, wollen wir wetten. – – Unmoeglich! Mensch! Mensch!
Unmoeglich!

HAUPTMANN: Kerl, will Er – will Er ein paar Kugeln vor den Kopf haben?
Er ersticht mich mit seinen Augen, und ich mein‘ es gut mit Ihm, weil
Er ein guter Mensch ist, Woyzeck, ein guter Mensch.

DOKTOR: Gesichtsmuskeln starr, gespannt, zuweilen huepfend. Haltung
aufgeregt, gespannt.

WOYZECK: Ich geh‘. Es is viel moeglich. Der Mensch! Es is viel
moeglich. – Wir haben schoen Wetter, hh. Sehn Sie, so ein schoener,
fester, grauer Himmel; man koennte Lust bekommen, ein‘ Kloben
hineinzuschlagen und sich daran zu haengen, nur wegen des
Gedankenstriches zwischen Ja und wieder Ja – und Nein. hh, Ja und
Nein? Ist das Nein am Ja oder das Ja am Nein schuld? Ich will darueber
nachdenken. – [Geht mit breiten Schritten ab, erst langsamer, dann
immer schneller.]

HAUPTMANN: Mir wird ganz schwindlig vor den Menschen. Wie schnell!
Der lange Schlingel greift aus, als laeuft der Schatten von einem
Spinnbein, und der Kurze, das zuckelt. Der Lange ist der Blitz und der
Kleine der Donner. Haha … Grotesk! grotesk!

    Mariens Kammer

[Marie. Woyzeck.]

WOYZECK [sieht sie starr an und schuettelt den Kopf]: Hm! Ich seh‘
nichts, ich seh nichts. O man muesst’s sehen, man muesst’s greifen
koenne mit Faeusten!

MARIE [verschuechtert]: Was hast du, Franz? – Du bist hirnwuetig,
Franz.

WOYZECK: Eine Suende, so dick und so breit – es stinkt, dass man die
Engelchen zum Himmel hinausraeuchern koennt‘! Du hast ein‘ roten Mund,
Marie. Keine Blase drauf? Wie, Marie, du bist schoen wie die Suende –
kann die Totsuende so schoen sein?

MARIE: Franz, du redest im Fieber!

WOYZECK: Teufel! – Hat er da gestanden? So? So?

MARIE: Dieweil der Tag lang und die Welt alt is, koennen viele
Menschen an einem Platz stehen, einer nach dem andern.

WOYZECK: Ich hab ihn gesehn!

MARIE: Man kann viel sehn, wenn man zwei Auge hat und nicht blind is
und die Sonn scheint.

WOYZECK: Mensch! – [Geht auf sie los.]

MARIE: Ruehr mich an, Franz! Ich haett‘ lieber ein Messer in den Leib
als deine Hand auf meiner. Mein Vater hat mich nit anzugreifen gewagt,
wie ich zehn Jahre alt war, wenn ich ihn ansah.

WOYZECK: Weib! – Nein, es muesste was an dir sein! Jeder Mensch ist
ein Abgrund; es schwindelt einem, wenn man hinabsieht. – Es waere!
Sie geht wie die Unschuld. Nun, Unschuld, du hast ein Zeichen an dir.
Weiss ich’s? Weiss ich’s? Wer weiss es? – [Er geht.]

    Die Wachstube.

[Woyzeck. Andres.]

ANDRES [singt]:
Frau Wirtin hat ne brave Magd,
sie sitzt im Garten Tag und Nacht,
sie sitzt in ihrem Garten …

WOYZECK: Andres!

ANDRES: Nu?

WOYZECK: Schoen Wetter.

ANDRES: Sonntagswetter – Musik vor der Stadt. Vorhin – sind die
Weibsbilder hinaus; die Mensche dampfe, das geht!

WOYZECK [unruhig]: Tanz, Andres, sie tanze!

ANDRES: Im Roessel und in Sternen.

WOYZECK: Tanz, Tanz!

ANDRES: Meinetwege.
Sitzt in ihrem Garten,
bis dass das Gloecklein zwoelfe schlaegt,
und passt auf die Solda-aten.

WOYZECK: Andres, ich hab‘ kei Ruh.

ANDRES: Narr!

WOYZECK: Ich muss hinaus. Es dreht sich mir vor den Augen. Tanz, Tanz!
Wird sie heisse Haend habe! Verdammt, Andres!

ANDRES: Was willst du?

WOYZECK: Ich muss fort, muss sehen.

ANDRES: Du Unfried! Wegen dem Mensch?

WOYZECK: Ich muss hinaus, ’s is so heiss dahie.

    Wirtshaus

[Die Fenster offen, Tanz. Baenke vor dem Haus. Bursche.]

ERSTER HANDSWERKSBURSCH:
Ich hab‘ ein Hemdlein an, das ist nicht mein;
meine Seele stinkt nach Branndewein –

ZWEITER HANDWERKSBURSCH: Bruder, soll ich dir aus Freundschaft ein
Loch in die Natur machen? Vorwaerts! Ich will ein Loch in die Natur
maehen! Ich bin auch ein Kerl, du weisst – ich will ihm alle Floeh am
Leib totschlagen.

ERSTER HANDWERKSBURSCH: Meine Seele, meine Seele stinkt nach
Branndewein! – Selbst das Geld geht in Verwesung ueber!
Vergissmeinnicht, wie ist diese Welt so schoen! Bruder, ich muss ein
Regenfass voll greinen vor Wehmut. Ich wollt‘, unsre Nasen waeren zwei
Bouteillen, und wir koennten sie uns einander in den Hals giessen.

ANDRE [im Chor]:
Ein Jaeger aus der Pfalz
ritt einst durch einen gruenen Wald.
Halli, hallo, ha lustig ist die Jaegerei
allhier auf gruener Heid.
Das Jagen is mei Freud.

[Woyzeck stellt sich ans Fenster. Marie und der Tambourmajor tanzen
vorbei, ohne ihm zu bemerken.]

WOYZECK: Er! Sie! Teufel!

MARIE [im Vorbeitanzen]: Immer zu, imer zu –

WOYZECK [erstickt]: Immer zu – immer zu! – [Faehrt heftig auf und
sinkt zurueck auf die Bank:] Immer zu, immer zu! – [Schlaegt die
Haende ineinander:] Dreht euch. waelzt euch! Warum blaest Gott nicht
die Sonn aus, dass alles in Unzucht sich uebereinanderwaelzt, Mann
und Weib, Mensch und Vieh?! Tut’s am hellen Tag, tut’s einem auf den
Haenden wie die Muecken! – Weib! Das Weib is heiss, heiss! – Immer zu,
immer zu! – [Faehrt auf:] Der Kerl, wie er an ihr herum greift, an
ihrem Leib! Er, er hat sie – wie ich zu Anfang. – [Er sinkt betaeubt
zusammen.]

ERSTER HANDWERKSBURSCH [predigt auf dem Tisch]: Jedoch, wenn ein
Wandrer, der gelehnt steht an dem Strom der Zeit oder aber sich die
goettliche Weisheit beantwortet und sich anredet: Warum ist der
Mensch? Warum ist der Mensch? – Aber wahrlich, ich sage euch: Von was
haette der Landmann, der Weissbinder, der Schuster, der Arzt leben
sollen, wenn Gott den Menschen nicht geschaffen haette? Von was haette
der Schneider leben sollen, wenn er dem Menschen nicht die Empfindung
der Scham eingepflanzt haette, von was der Soldat, wenn er ihm nicht
mit dem Beduerfnis sich totzuschlagen ausgeruestet haette? Darum
zweifelt nicht – ja, ja, es ist lieblich und fein, aber alles Irdische
ist uebel, selbst das Geld geht in Verwesung ueber. Zum Beschluss,
meine geliebten Zuhoerer, lasst uns noch uebers Kreuz pissen, damit
ein Jud stirbt!

[Unter allgemeinem Gejohle erwacht Woyzech und rast davon.]

    Freies Feld

WOYZECK: Immer zu! Immner zu! Hisch, hasch! So gehn die Geigen und die
Pfeifen. – Immer zul Immer zu! – Still, Musik! Was spricht da unten?

  • Recht sich gegen den Boden: Ha, was, was sagt ihr? Lauterl Lauter!
    Stich, stich die Zickwolfin tot? – Stich, stich die Zickwolfin tot!
  • Soll ich! Muss ich? Hoer‘ ich’s da auch? – Sagt’s der Wind auch? –
    Hoer‘ ich’s immer, immer zu: stich tot, tot! Ein Zimmer in der Kaserne

[Nacht. Andres und Woyzech in einem Bett.]

WOYZECK [leise]: Andres!

[Andres murmelt im Schlaf.]

WOYZECK [schuettelt Andres]: He, Andres! Andres!

ANDRES: Na was is?

WOYZECK: Ich kann nit schlafen! Wenn ich die Aug zumach‘, dreht
sich’s immer, und ich hoer‘ die Geigen, immer zu, immer zu. Und dann
spricht’s aus der Wand. Hoerst du nix?

ANDRES: Ja – lass sie tanze! Einer is mued, und dann Gott behuet uns,
amen.

WOYZECK: Es redt lmmer: stich! stich! und zieht mir zwischen den Augen
wie ein Messer –

ANDRES: Schlaf, Narr! – [Er schlaeft wieder ein.]

WOYZECK: Immer zu! Immer zu!

    Der Hof des Doktors

[Studenten und Woyzeck unten, der Doktor am Dachfenster.]

DOKTOR: Meine Herren, ich bin auf dern Dach wie David, als er
die Bathseba sah; aber ich sehe nichts als die culs de Paris der
Maedchenpension im Garten trocknen. Meine Herren, wir sind an der
wichtigen Frage ueber das Verhaeltnis des Subjekts zum Objekt.
Wenn wir nur eins von den Dingen nehmen, worin sich die organische
Selbstaffirmation des Goettlichen, auf einem so hohen Standpunkte,
manifestiert, und ihre Verhaeltnisse zum Raum, zur Erde, zum
Planetarischen untersuchen, meine Herren, wenn ich diese Katze zum
Fenster hinauswerfe: wie wird diese Wesenheit sich zum centrum
gravitationis gemaess ihrem eigenen Instinkt verhalten? – He, Woyzeck

  • [bruellt] -, Woyzeck!

WOYZECK [faengt die Katze auf]: Herr Doktor, sie beisst!

DOKTOR: Kerl, Er greift die Bestie so zaertlich an, als waer’s seine
Grossmutter. – [Er kommt herunter.]

WOYZECK: Herr Doktor, ich hab’s Zittern.

DOKTOR [ganz erfreut]: Ei, ei! Schoen, Woyzeck! – Reibt sich die
Haende. [Er nimmt die Katze:] Was seh‘ ich, meine Herren, die neue
Spezies Hasenlaus, eine schoene Spezies … – [Er zieht eine Lupe
heraus, die Katze laeuft fort.] – Meine Herren, das Tier hat keinen
wissenschaftlichen Instinkt … Die koennen dafuer was anders sehen.
Sehen Sie: der Mensch, seit einem Vierteljahr isst er nichts als
Erbsen; bemerken Sie die Wirkung, fuehlen Sie einmal: Was ein
ungleicher Puls! Der und die Augen!

WOYZECK: Herr Daktor, es wird mir dunkel! – [Er setzt sich.]

DOKTOR: Courage, Woyzeck! Noch ein paar Tage, und dann ist’s fertig.
Fuehlen Sie, meine Herren, fuehlen Sie! – [Sie betasten ihm Schlaefe,
Puls und Busen.] – Apropos, Woyzeck, beweg den Herren doch einmal die
Ohren! Ich hab‘ es Ihnen schon zeigen wollen, zwei Muskeln sind bei
ihm taetig. Allons, frisch!

WOYZECK: Ach, Herr Doktor!

DOKTOR: Bestie, sall ich dir die Ohren bewegen? Willst du’s machen wie
die Katze? So, meine Herren! Das sind so Uebergaenge zum Esel, haeufig
auch die Folge weiblicher Erziehung und die Muttersprache. Wieviel
Haare hat dir die Mutter zum Andenken schon ausgerissen aus
Zaertlichkeit? Sie sind dir ja ganz duenn geworden seit ein paar
Tagen. Ja, die Erbsen, meine Herren!

    Kasernenhof

WOYZECK: Hast nix gehoert?

ANDRES: Er is da, noch mit einem Kameraden.

WOYZECK: Er hat was gesagt.

ANDRES: Woher weisst du’s? Was soll ich’s sagen? Nu, er lachte, und
dann sagt er: Ein koestlich Weibsbild! Die hat Schenkel, und alles so
heiss!

WOYZECK [ganz kalt]: So, hat er das gesagt? Von was hat mir doch hat
nacht getraeumt? War’s nicht von einem Messer? Was man doch naerrische
Traeume hat!

ANDRES: Wohin, Kamerad?

WOYZECK: Meim Offizier Wein holen. – Aber, Andres, sie war dach ein
einzig Maedel.

ANDRES: Wer war?

WOYZECK: Nix. Adies! – [Ab.]

    Wirtshaus

[Tambourmajor. Woyzeck. Leute.]

TAMBOURMAJOR: Ich bin ein Mann! – [Schlaegt sich auf die Brust:] Ein
Mann, sag‘ ich. Wer will was? Wer kein be- soffner Herrgott ist, der
lass sich von mir. Ich will ihn die Nas ins Arschloch pruegeln! Ich
will – [Zu Woyzeck:] Du Kerl, sauf! Ich wollt‘ die Welt waer‘ Schnaps,
Schnaps – der Mann muss saufen! – [Woyzech pfeift.] – Kerl, soll ich
dir die Zung aus dem Hals ziehn und sie um den Leib herumwickeln? –
Sie ringen, Woyzeck verliert. – Soll ich dir noch so viel Atem lassen
als ‚en Altweiberfurz, soll ich? – [Woyzech setzt sich erschoepft
zitternd auf eine Bank.] – Der Kerl soll dunkelblau pfeifen.
Branndewein, das ist mein Leben;
Branndwein gibt Courage!

EINE: Der hat sein Fett.

ANDRE: Er blut‘.

WOYZECK: Eins nach dem andern.

    Kramladen

[Woyzeck. Der Jude.]

WOYZECK: Das Pistolchen ist zu teuer.

JUDE: Nu, kauft’s oder kauft’s nit, was is?

WOYZECK: Was kost‘ das Messer?

JUDE: ’s ist ganz grad. Wollt Ihr Euch den Hals mit abschneiden? Nu,
was is es? Ich geb’s Euch so wohlfeil wie ein andrer. Ihr sollt Euern
Tod wohifeil haben, aber doch nit umsonst. Was is es? Er soll ein
oekonomischer Tod haben.

WOYZECK: Das kann mehr als Brot schneiden –

JUDE: Zwee Grosche.

WOYZECK: Da! – Geht ab.

JUDE: Da! Als ob’s nichts waer! Und es is doch Geld. – Du Hund!

    Mariens Kammer

NARR [liegt und erzaehlt sich Maerchen an den Fingern]: Der hat die
goldne Kron, der Herr Koenig … Morgen hol‘ ich der Frau Koenigin ihr
Kind … Blutwurst sagt: komm, Leber- wurst …

MARIE [blaettert in der Bibel]: „Und ist kein Betrug in seinem Munde
erfunden“: … Herrgott, Herrgott! Sieh mich nicht an! – [Blaettert
weiter:] „Aber die Pharisaeer brachten ein Weib zu ihm, im Ehebruch
begriffen, und stelleten sie ins Mittel dar … Jesus aber sprach:
So verdamme ich dich auch nicht. Geh hin und suendige hinfort nicht
mehr!“ – [Schlaegt die Haende zusammen:] Hergott! Hergott! Ich kann
nicht! – Herrgott, gib mir nur so viel, dass ich beten kann. – [Das
Kind draengt sich an sie.] – Das Kind gibt mir einen Stich ins Herz.

  • [Zum Narrn:] Karl! Das bruest‘ sich in der Sonne! – [Narr nimmt
    das Kind und wird still.] – Der Franz ist nit gekommen, gestern nit,
    heut nit. Es wird heiss hier! – [Sie macht das Fenster auf und liest
    wieder:] „Und trat hinten zu seinen Fuessen und weinete, und fing an,
    seine Fuesse zu netzen mit Traenen und mit den Haaren ihres Hauptes
    zu trocknen, und kuessete seine Fuesse und salbete sie mit Salbe
    …“ [Schlaegt sich auf die Brust:] Alles tot! Heiland! Heiland! ich
    moechte dir die Fuesse salben! – Kaserne

[Andres. Woyzeck kramt in seinen Sachen.]

WOYZECK: Das Kamisolchen, Andres, ist nit zur Montur: du kannst’s
brauchen, Andres.

ANDRES [ganz starr, sagt zu allem]: Jawohl.

WOYZECK: Das Kreuz meiner Schwester und das Ringlein.

ANDRES: Jawohl.

WOYZECK: Ich hab‘ auch noch ein Heiligen, zwei Herze und schoen Gold –
es lag in meiner Mutter Bibel, und da steht:
Herr, wie dein Leib war rot und wund,
so lass mein Herz sein aller Stund.
Mein Mutter fuehlt nur noch, wenn ihr die Sonn auf die Haend scheint –
das tut nix.

ANDRES: Jawohl.

WOYZECK [zieht ein Papier hervor]: Friedrich Johann Franz Woyzeck,
Wehrmann, Fuesilier im 2. Regiment, 2. Bataillion 4. Kompanie, geboren
Mariae Verkuendigung, den 20. Juli. – Ich bin heut alt 30 Jahr, 7
Monat und 12 Tage.

ANDRES: Franz, du kommst ins Lazarett. Armer, du musst Schnaps trinken
und Pulver drin, das toet‘ das Fieber.

WOYZECK: Ja, Andres, wenn ein Schreiner die Hobelspaene sammelt, es
weiss niemand, wer seinen Kopf drauflegen wird.

    Strasse

[Marie mit Maedchen vor der Haustuer, Grossmutter; spaeter Woyzeck]

MAEDCHEN:
Wie scheint die Sonn am Lichtmesstag
und steht das Korn im Bluehn.
Sie gingen wohl die Wiese hin,
sie gingen zu zwein und zwein.
Die Pfeifer gingen voran,
die Geiger hinterdrein,
sie hatten rote Socken an …

ERSTES KIND: Das ist nit schoen.

ZWEITES KIND: Was willst du auch immer!

ERSTES KIND: Marie, sing du uns!

MARIE: Ich kann nit.

ERSTES KIND: Warum?

MARIE: Darum.

ZWEITES KIND: Aber warum darum?

DRITTES KIND: Grossmutter, erzaehl!

GROSSMUTTER: Kommt, ihr kleinen Krabben! – Es war einmal ein arm Kind
und hatt‘ kein Vater und keine Mutter, war alles tot, und war niemand
mehr auf der Welt. Alles tot, und es is hingangen und hat gesucht Tag
und Nacht. Und weil auf der Erde niemand mehr war, wollt’s in Himmel
gehn, und der Mond guckt es so freundlich an; und wie es endlich zum
Mond kam, war’s ein Stueck faul Holz. Und da is es zur Sonn gangen,
und wie es zur Sonn kam, war’s ein verwelkt Sonneblum. Und wie’s zu
den Sternen kam, waren’s kleine goldne Muecken, die waren angesteckt,
wie der Neuntoeter sie auf die Schlehen steckt. Und wie’s wieder auf
die Erde wollt, war die Erde ein umgestuerzter Hafen. Und es war ganz
allein. Und da hat sich’s hingesetzt und geweint, und da sitzt es noch
und is ganz allein.

WOYZECK [erscheint]: Marie!

MARIE [erschreckt]: Was is?

WOYZECK: Marie, wir wollen gehn. ’s is Zeit.

MARIE: Wohin?

WOYZECK: Weiss ich’s?

    Waldsaum am Teich

[Marie und Woyzeck.]

MARIE: Also dort hinaus is die Stadt. ’s is finster.

WOYZECK: Du sollst noch bleiben. Komm, setz dich!

MARIE: Aber ich muss fort.

WOYZECK: Du wirst dir die Fuesse nit wund laufe.

MARIE: Wie bist du nur auch!

WOYZECK: Weisst du auch, wie lang es jetzt is, Marie?

MARIE: Am Pfingsten zwei Jahr.

WOYZECK: Weisst du auch, wie lang es noch sein wird?

MARIE: Ich muss fort, das Nachtessen richten.

WOYZECK: Friert’s dich, Marie? Und doch bist du warm. Was du heisse
Lippen hast! Heiss, heissen Hurenatem! Und doch moecht‘ ich den Himmel
geben, sie noch einmal zu kuessen. – Friert’s dich? Wenn man kalt is,
so friert man nicht mehr. Du wirst vom Morgentau nicht frieren.

MARIE: Was sagst du?

WOYZECK: Nix.

[Schweigen.]

MARIE: Was der Mond rot aufgeht!

WOYZECK: Wie ein blutig Eisen.

MARIE: Was hast du vor, Franz, du bist so blass. – [Er holt mit dem
Messer aus.] – Franz halt ein! Um des Himmels willen, Hilfe, Hilfe!

WOYZECK [sticht drauflos:] Nimm das und das! Kannst du nicht sterben?
So! So! – Ha, sie zuckt noch; noch nicht? Noch nicht? Immer noch.

  • [Stoesst nochmals zu.] – Bist du tot! Tot! Tot! – [Er laesst das
    Messer fallen und laeuft weg.] Das Wirtshaus

WOYZECK: Tanzt alle, immer zu! Schwitzt und stinkt! Er holt euch doch
einmal alle! – [Singt:]
Ach. Tochter, lieb Tochter
was hast du gedenkt,
dass du dich an die Landkutscher
und die Fuhrleut hasst gehenkt.
[Er tanzt:] So, Kaethe, setz dich! Ich hab‘ heiss heiss! – [Er zieht
den Rock aus.] – Es ist einmal so, der Teufel holt die eine und laesst
die andre laufen. Kaethe, du bist heiss! War- um denn? Kaethe, du
wirst auch noch kalt werden. Sei vernuenftig. – Kannst du nicht
singen?

KAETHE [singt]:
Ins Schwabenland, das mag ich nicht,
und lange Kleider trag‘ ich nicht,
denn lange Kleider, spitze Schuh,
die kommen keiner Dienstmagd zu.

WOYZECK: Nein, keine Schuh, man kann auch ohne Schuh in die Hoell
gehn.

KAETHE [singt]:
O pfui mein Schatz, das war nicht fein,
behalt dein Taler und schlaf allein.

WOYZECK: Ja, wahrhaftig, ich moecte mich nicht blutig machen.

KAETHE: Aber was hast du an deiner Hand?

WOYZECK: Ich? Ich?

KAETHE: Rot! Blut!

[Es stellen sich Leute um sie.]

WOYZECK: Blut? Blut?

WIRT: Uu – Blut!

WOYZECK: Ich glaub‘, ich hab‘ mich geschnitten, da an der rechten
Hand.

WIRT: Wie kommt’s aber an den Ellenbogen?

WOYZECK: Ich hab’s abgewischt.

WIRT: Was, mit der rechten Hand an den rechten Ellenbogen Ihr seid
geschickt!

NARR: Und da hat der Ries gesagt: Ich riech‘, ich riech‘
Menschenfleisch. Puh, das stinkt schon!

WOYZECK: Teufel, was wollt ihr? Was geht’s euch an? Platz, oder der
erste – Teufel! Meint ihr, ich haett‘ jemand umgebracht? Bin ich ein
Moerder? Was gafft ihr? Guckt euch selbst an! Platz da! – [Er laeuft
hinaus.]

    Am Teich

WOYZECK [allein]: Das Messer? Wo ist das Messer? Ich hab‘ es da
gelassen. Es verraet mich! Naeher, noch naeher! Was is das fuer ein
Platz? Was hoer‘ ich? Es ruehrt sich was. Still. – Da in der Naehe.
Marie? Ha, Marie! Still. Alles still! Was bist du so bleich, Marie?
Was hast du eine rote Schnur um den Hals? Bei wem hast du das Halsband
verdient mit deinen Suenden? Du warst schwarz davon, schwarz! Hab‘ ich
dich gebleicht? Was haengen deine Haare so wild? Hast du deine Zoepfe
heute nicht geflochten? … – Das Messer, das Messer! Hab‘ ich’s? So!

  • [Er laeuft zum Wasser.] So, da hinunter! – [Er wirft das Messer
    hinein.] – Es taucht in das dunkle Wasser wie ein Stein. – Nein, es
    liegt zu weit vorn, wenn sie sich baden. – [Er geht in den Teich und
    wirft weit.] – So, jetzt – aber im Sommer, wenn sie tauchen nach
    Muscheln? – Bah, es wird rostig, wer kann’s erkennen. – Haett‘ ich es
    zerbrochen! – – Bin ich noch blutig? Ich muss mich waschen. Da ein
    Fleck, und da noch einer …

[Es kommen Leute.]

ERSTE PERSON: Halt!

ZWEITE PERSON: Hoerst du? Still! Dort!

ERSTE: Uu! Da! Was ein Ton!

ZWEITE: Es ist das Wasser, es ruft: Schon lang ist niemand ertrunken.
Fort! Es ist nicht gut, es zu hoeren!

ERSTE: Uu! Jetzt wieder! – Wie ein Mensch, der stirbt!

ZWEITE: Es ist unheimlich! So dunstig, allenthalben Nebelgrau – und
das Summen der Kaefer wie gesprungne Glocken. Fort!

ERSTE: Nein. zu deutlich, zu laut! Da hinauf! Komm mit!

*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK, WOYZECK ***

Quelle: https://archive.org/stream/woyzeck05322gut/7woyz10.txt

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