Full text of „Woyzeck“

Woyzeck

Georg Buechner

Vorbemerkung

Dieses Stueck ist ein Fragment. Es gibt keine einzig richtige
Reihenfolge der einzelnen Szenen, denn sie sind weder nummeriert noch
in Akte aufgeteilt.

Die hier vorliegende Reihenfolge stimmt mit der Verfilmung mit
Klaus Kinski in der Hauptrolle ueberein, vom Ende vielleicht einmal
abgesehen.

Das Stueck spielt in Darmstadt, die Figuren sprechen groesstenteils
in dortigem Dialekt. Deshalb haben im Hochdeutschen grammatikalisch
falsche Konstruktionen hier seine Richtigkeit.

Personen

Woyzeck
Marie
Hauptmann
Doktor
Tamboumajour
Unteroffizier
Andres
Margret
Budenbesitzer
Marktschreier
Alter Mann mit Leierkasten
Jude
Wirt
Erster Handwerksbursch
Zweiter Handwerksbursch
Kaethe
Narr Karl
Grossmutter
Erstes, zweites, drittes Kind
erste, zweite Person
Polizeikommissar

Soldaten. Studenten. Burschen und Maedchen
Kinder. Volk

Woyzeck

    Beim Hauptmann

[Hauptmann auf dem Stuhl, Woyzeck rasiert ihn.]

HAUPTMANN: Langsam, Woyzeck, langsam; eins nach dem andern! Er macht
mir ganz schwindlig. Was soll ich dann mit den 10 Minuten anfangen,
die Er heut zu frueh fertig wird? Woyzeck, bedenk Er, Er hat
noch seine schoenen dreissig Jahr zu leben, dreissig Jahr! Macht
dreihundertsechzig Monate! und Tage! Stunden! Minuten! Was will Er
denn mit der ungeheuren Zeit all anfangen? Teil Er sich ein, Woyzeck!

WOYZECK: Jawohl, Herr Hauptmann.

HAUPTMANN: Es wird mir ganz angst um die Welt, wenn ich an die
Ewigkeit denke. Beschaeftigung, Woyzeck, Beschaeftigung! Ewig: das ist
ewig, das ist ewig – das siehst du ein; nur ist es aber wieder nicht
ewig, und das ist ein Augenblick, ja ein Augenblick – Woyzeck, es
schaudert mich, wenn ich denke, dass sich die Welt in einem Tag
herumdreht. Was ’n Zeitverschwendung! Wo soll das hinaus? Woyzeck, ich
kann kein Muehlrad mehr sehen, oder ich werd melancholisch.

WOYZECK: Jawohl, Herr Hauptmann.

HAUPTMANN: Woyzeck, Er sieht immer so verhetzt aus! Ein guter Mensch
tut das nicht, ein guter Mensch, der sein gutes Gewissen hat. – Red er
doch was Woyzeck! Was ist heut fuer Wetter?

WOYZECK: Schlimm, Herr Hauptmann, schlimm: Wind!

HAUPTMANN: Ich spuer’s schon. ’s ist so was Geschwindes draussen: so
ein Wind macht mir den Effekt wie eine Maus. – [Pfiffig:] Ich glaub‘,
wir haben so was aus Sued-Nord?

WOYZECK: Jawohl, Herr Hauptmann.

HAUPTMANN: Ha, ha ha! Sued-Nord! Ha, ha, ha! Oh, Er ist dumm, ganz
abscheulich dumm! – [Geruehrt:] Woyzeck, Er ist ein guter Mensch
–aber– [Mit Wuerde:] Woyzeck, Er hat keine Moral! Moral, das ist,
wenn man moralisch ist, versteht Er. Es ist ein gutes Wort. Er hat
ein Kind ohne den Segen der Kirche, wie unser hocherwuerdiger Herr
Garnisionsprediger sagt – ohne den Segen der Kirche, es ist ist nicht
von mir.

WOYZECK: Herr Hauptmann, der liebe Gott wird den armen Wurm nicht drum
ansehen, ob das Amen drueber gesagt ist, eh er gemacht wurde. Der Herr
sprach: Lasset die Kleinen zu mir kommen.

HAUPTMANN: Was sagt Er da? Was ist das fuer eine kuriose Antwort? Er
macht mich ganz konfus mit seiner Antwort. Wenn ich sag‘: Er, so mein‘
ich Ihn, Ihn –

WOYZECK: Wir arme Leut – Sehn Sie, Herr Hauptmann: Geld, Geld! Wer
kein Geld hat – Da setz einmal eines seinesgleichen auf die Moral
in der Welt! Man hat auch sein Fleisch und Blut. Unsereins ist doch
einmal unselig in der und der andern Welt. Ich glaub‘, wenn wir in
Himmel kaemen, so muessten wir donnern helfen.

HAUPTMANN: Woyzeck, Er hat keine Tugend! Er ist kein tugendhafter
Mensch! Fleisch und Blut? Wenn ich am Fenster lieg‘, wenn’s geregnet
hat, und den weissen Struempfen nachseh‘, wie sie ueber die Gassen
springen – verdammt, Woyzeck, da kommt mir die Liebe! Ich hab‘ auch
Fleisch und Blut. Aber, Woyzeck, die Tugend! Die Tugend! Wie sollte
ich dann die Zeit rumbringen? Ich sag‘ mir immer: du bist ein
tugendhafter Mensch – [geruehrt:] -, ein guter Mensch, ein guter
Mensch.

WOYZECK: Ja, Herr Hauptmann, die Tugend – ich hab’s noch nit so aus.
Sehn Sie: wir gemeine Leut, das hat keine Tugend, es kommt nur so
die Natur; aber wenn ich ein Herr waer und haett‘ ein‘ Hut und eine
Uhr und eine Anglaise und koennt‘ vornehm rede, ich wollt‘ schon
tugendhaft sein. Es muss was Schoenes sein um die Tugend, Herr
Hauptmann. Aber ich bin ein armer Kerl!

HAUPTMANN: Gut, Woyzeck. Du bist ein guter Mensch, ein guter Mensch.
Aber du denkst zuviel, das zehrt; du siehst immer so verhetzt aus. –
Der Diskurs hat mich ganz angegriffen. Geh jetzt, und renn nicht so;
langsam, huebsch langsam die Strasse hinunter!

    Freies Feld, die Stadt in der Ferne

[Woyzeck und Andres schneiden Stecken im Gebuesch. Andres pfeift.]

WOYZECK: Ja, Andres, der Platz ist verflucht. Siehst Du den lichten
Streif da ueber das Gras hin, wo die Schwaemme so nachwachsen? Da
rollt abends der Kopf. Es hob ihn einmal einer auf, er meint‘, es waer
ein Igel: drei Tag und drei Naecht, er lag auf den Hobelspaenen. –
[Leise:] Andres, das waren die Freimaurer! Ich hab’s, die Freimaurer!

ANDRES [singt]:
Sassen dort zwei Hasen,
frassen ab das gruene, gruene Gras…

WOYZECK: Still: Hoerst du’s, Andres? Hoerst du’s? Es geht was!

ANDRES:
Frassen ab das gruene, gruene Gras…
bis auf den gruenen Rasen.

WOYZECK: Es geht hinter mir, unter mir. – [Stampft auf den Boden:]
Hohl, hoerst Du? Alles hohl da unten! Die Freimaurer!

ANDRES: Ich fuercht‘ mich.

WOYZECK: ’s ist so kurios still. Man moecht‘ den Atem halten. –
Andres!

ANDRES: Was?

WOYZECK: Red was! – [Starrt in die Gegend.] – Andres, wie hell! Ueber
der Stadt is alles Glut! Ein Feuer faehrt um den Himmel und ein Getoes
herunter wie Posaunen. Wie’s heraufzieht! – Fort! Sieh nicht hinter
dich! – [Reisst ihn ins Gebuesch.]

ANDRES [nach einer Pause]: Woyzeck, hoerst du’s noch?

WOYZECK: Still, alles still, als waer‘ die Welt tot.

ANDRES: Hoerst du? Sie trommeln drin. Wir muessen fort!

    Die Stadt

[Marie mit ihrem Kind am Fenster. Margret. Der Zapfenstreich geht
vorbei, der Tambourmajor voran.]

MARIE [das Kind wippend auf dem Arm]: He, Bub! Sa ra ra ra! Hoerst? Da
kommen Sie!

MARGRET: Was ein Mann, wie ein Baum!

MARIE: Er steht auf seinen Fuessen wie ein Loew.

[Tambourmajor gruesst.]

MARGRET: Ei, was freundliche Auge, Frau Nachbarin! So was is man an
ihr nit gewoehnt.

MARIE [singt]: Soldaten, das sind schoene Bursch …

MARGRET: Ihre Auge glaenze ja noch –

MARIE: Und wenn! Trag Sie Ihr Aug zum Jud, und lass Sie sie putze;
vielleicht glaenze sie noch, dass man sie fuer zwei Knoepfe verkaufen
koennt.

MARGRET: Was, Sie? Sie? Frau Jungfer! Ich bin eine honette Person,
aber Sie, es weiss jeder, Sie guckt sieben Paar lederne Hose durch!

MARIE: Luder! – [Schlaegt das Fenster durch.] – Komm, mei Bub! Was die
Leute wolle. Bist doch nur ein arm Hurenkind und machst deiner Mutter
Freud mit deim unehrlichen Gesicht! Sa! sa! – [Singt]
Maedel, was fangst Du jetzt an?
Hast ein klein Kind und kein‘ Mann!
Ei, was frag‘ ich danach?
Sing‘ ich die ganze Nacht
heio, popeio, mei Bu, juchhe!
Gibt mir kein Mensch nix dazu.

[Es klopft am Fenster.]

MARIE: Wer da? Bist du’s, Franz? Komm herein!

WOYZECK: Kann nit. Muss zum Verles‘.

MARIE: Hast du Stecken geschnitten fuer den Hauptmann?

WOYZECK: Ja, Marie.

MARIE: Was hast du, Franz? Du siehst so verstoert.

WOYZECK [geheimnisvoll]: Marie, es war wieder was, viel – steht nicht
geschrieben: Und sie, da ging ein Rauch vom Land, wie der Rauch vom
Ofen?

MARIE: Mann!

WOYZECK: Es ist hinter mir hergangen bis vor die Stadt. Etwas, was
wir nicht fassen, begreifen, was uns von Sinnen bringt. Was soll das
werden?

MARIE: Franz!

WOYZECK: Ich muss fort. – Heut abend auf die Mess! Ich hab wieder
gespart. – [Er geht.]

MARIE: Der Mann! So vergeistert. Er hat sein Kind nicht angesehn!
Er schnappt noch ueber mit den Gedanken! – Was bist so still, Bub?
Furchtest dich? Es wird so dunkel; man meint, man waer‘ blind. Sonst
scheint als die Latern herein. Ich halt’s nit aus; es schauert mich! –
[Geht ab.]

    Buden. Lichter. Volk

ALTER MANN [singt und Kind tanzt zum Leierkasten]:
Auf der Welt ist kein Bestand,
Wir muessen alle sterben,
das ist uns wohlbekannt.

WOYZECK: Hei, Hopsa’s! – Armer Mann, alter Mann! Armes Kind, junges
Kind! Sorgen und Feste!

MARIE: Mensch, sind noch die Narrn von Verstande, dann ist man selbst
ein Narr. – Komische Welt! Schoene Welt!

[Beide gehn weiter zum Marktschreier.]

MARKTSCHREIER [vor seiner Bude mit seiner Frau in Hosen und einem
kostuemierten Affen]: Meine Herren, meine Herren! Sehn Sie die
Kreatur, wie sie Gott gemacht: nix, gar nix. Sehn Sie jetzt die Kunst:
geht aufrecht, hat Rock und Hosen, hat ein‘ Saebel! Der Aff ist
Soldat; s‘ ist noch nicht viel, unterste Stuf von menschliche
Geschlecht. Ho! Mach Kompliment! So – bist Baron. Gib Kuss! – [Er
trompetet:] Wicht ist musikalisch. – Meine Herren, hier ist zu sehen
das astronomische Pferd und die kleine Kanaillevoegele. Sind Favorit
von alle gekroente Haeupter Europas, verkuendigen den Leuten alles:
wie alt, wieviel Kinder, was fuer Krankheit. Die Repraesentationen
anfangen! Es wird sogleich sein Commencement von Commencement.

WOYZECK: Willst Du?

MARIE: Meinetwegen. Das muss schoen Ding sein. Was der Mensch Quasten
hat! Und die Frau Hosen!

[Beide gehn in die Bude.]

TAMBOURMAJOR: Halt, jetzt! Siehst du sie! Was ein Weibsbild!

UNTEROFFIZIER: Teufel! Zum Fortpflanzen von Kuerassierregimentern!

TAMBOURMAJOR: Und zur Zucht von Tambourmajors!

UNTEROFFIZIER: Wie sie den Kopf traegt! Man meint, das schwarze Haar
muesst‘ sie abwaerts ziehn wie ein Gewicht. Und Augen –

TAMBOURMAJOR: Als ob man in ein‘ Ziehbrunnen oder zu einem Schornstein
hinunter guckt. Fort, hintendrein! –

    Das Innere der hellerleuchteten Bude

MARIE: Was Licht!

WOYZECK: Ja, Marie, schwarze Katzen mit feurigen Augen. Hei, was ein
Abend!

DER BUDENBESITZER [ein Pferd vorfuehrend]: Zeig dein Talent! Zeig
deine viehische Vernuenftigkeit! Beschaeme die menschliche Sozietaet!
Meine Herren, dies Tier, was Sie da sehn, Schwanz am Leib, auf seine
vier Hufe, ist Mitglied von alle gelehrt Sozietaet, ist Professor
an unsre Universitaet, wo die Studente bei ihm reiten und schlagen
lernen. – Das war einfacher Verstand. Denk jetzt mit der doppelten
Raison! Was machst du, wann du mit der doppelten Raison denkst? Ist
unter der gelehrten Societe da ein Esel? – [Der Gaul schuettelt den
Kopf.] – Sehn Sie jetzt die doppelte Raison? Das ist Viehsionomik. Ja,
das ist kein viehdummes Individuum, das ist ein Person, ein Mensch,
ein tierischer Mensch – und doch ein Vieh, ein Bete. – [Das Pferd
fuehrt sich ungebuehrlich auf.] – So, beschaeme die Societe. Sehn Sie,
das Vieh ist noch Natur, unideale Natur! Lernen Sie bei ihm! Fragen
Sie den Arzt, es ist sonst hoechst schaedlich! Das hat geheissen:
Mensch, sei natuerlich! Du bist geschaffen aus Staub, Sand, Dreck.
Willst du mehr sein als Staub, Sand, Dreck? – Sehn Sie, was Vernunft:
es kann rechnen und kann doch nit an den Fingern herzaehlen.
Warum? Kann sich nur nit ausdruecken, nur nit explizieren, ist ein
verwandelter Mensch. Sag den Herren, wieviel Uhr ist es! Wer von den
Herren und Damen hat ein Uhr? ein Uhr?

UNTEROFFIZIER: Eine Uhr? – [Zieht grossartig und gemessen eine Uhr aus
der Tasche:] Da, mein Herr!

MARIE: Das muss ich sehn. – [Sie klettert auf den ersten Platz;
Unteroffizier hilft ihr.]

TAMBOURMAJOR: Das ist ein Weibsbild.

    Mariens Kammer

MARIE [sitzt, ihr Kind auf dem Schoss, ein Stueckchen Spiegel in
der Hand]: Der andre hat ihm befohlen, und er hat gehen muessen! –
[Bespiegelt sich:] Was die Steine glaenzen! Was sind’s fuer? Was hat
er gesagt? – – Schlaf, Bub! Drueck die Augen zu, fest! – [Das Kind
versteckt die Augen hinter den Haenden.] – Noch fester! Bleib so –
still, oder er holt dich! – [Singt:]
Maedel, mach’s Ladel zu
’s kommt e Zigeunerbu,
fuehrt dich an deiner Hand
fort ins Zigeunerland.
[Spiegelt sich wieder.] – ’s ist gewiss Gold! Wie wird mir’s beim
Tanzen stehen? Unsereins hat nur ein Eckchen in der Welt und ein
Stueck Spiegel, und doch hab ich ein‘ so roten Mund als die grossen
Madamen mit ihrem Spiegeln von oben bis unten und ihren schoenen
Herrn, die ihnen die Haend kuessen. Ich bin nur ein arm Weibsbild!

  • [Das Kind richtet sich auf.] – Still, Bub, die Augen zu! Das
    Schlafengelchen! Wie’s an der Wand laeuft. – [Sie blinkt ihm mit dem
    Glas:] Die Auge zu, oder es sieht dir hinein, dass du blind wirst!

[Woyzeck tritt herein, hinter sie. Sie faehrt auf, mit den Haenden
nach den Ohren.]

WOYZECK: Was hast du?

MARIE: Nix.

WOYZECK: Unter deinen Fingern glaenzt’s ja.

MARIE: Ein Ohrringlein; hab’s gefunden.

WOYZECK: Ich hab‘ so noch nix gefunden, zwei auf einmal!

MARIE: Bin ich ein Mensch?

WOYZECK: ’s ist gut, Marie. – Was der Bub schlaeft! Greif ihm unters
Aermchen, der Stuhl drueckt ihn. Die hellen Tropfen stehn ihm auf der
Stirn; alles Arbeit unter der Sonn, sogar Schweiss im Schlaf. Wir
arme Leut! – Da ist wieder Geld, Marie; die Loehnung und was von meim
Hauptmann.

MARIE: Gott vergelt’s, Franz.

WOYZECK: Ich muss fort. Heut abend, Marie! Adies!

MARIE [allein, nach einer Pause]: Ich bin doch ein schlechter Mensch!
Ich koennt‘ mich erstechen. – Ach, was Welt! Geht doch alle zum
Teufel, Mann und Weib! Vorige Seite Naechste Seite

    Beim Doktor

[Woyzeck. Der Doktor.]

DOKTOR: Was erleb‘ ich, Woyzeck? Ein Mann von Wort!

WOYZECK: Was denn, Herr Doktor?

DOKTOR: Ich hab’s gesehn, Woyzeck; er hat auf die Strass gepisst, an
die Wand gepisst, wie ein Hund. – Und doch drei Groschen taeglich und
die Kost! Woyzeck, das ist schlecht; die Welt wird schlecht, sehr
schlecht!

WOYZECK: Aber, Herr Doktor, wenn einem die Natur kommt.

DOKTOR: Die Natur kommt, die Natur kommt! Die Natur! Hab‘ ich nicht
nachgewiesen, dass der Musculus constrictor vesicae dem Willen
unterworfen ist? Die Natur! Woyzeck, der Mensch ist frei, in dem
Menschen verklaert sich die Individualitaet zur Freiheit. – Den Harn
nicht halten koennen! – [Schuettelt den Kopf, legt die Haende auf den
Ruecken und geht auf und ab.] – Hat Er schon seine Erbsen gegessen,
Woyzeck? Nichts als Erbsen, cruciferae, merk Er sich’s! Es gibt eine
Revolution in der Wissenschaft, ich sprenge sie in die Luft. Harnstoff
0,10, salzsaures Ammonium, Hyperoxydul – Woyzeck, muss Er nicht wieder
pissen? Geh Er einmal hinein und probier Er’s!

WOYZECK: Ich kann nit, Herr Doktor.

DOKTOR [mit Affekt]: Aber an die Wand pissen! Ich hab’s schriftlich,
den Akkord in der Hand! – Ich hab’s gesehen, mit diesen Augen
gesehen; ich steckt‘ grade die Nase zum Fenster hinaus und liess die
Sonnenstrahlen hineinfallen, um das Niesen zu beobachten. – [Tritt auf
ihn los:] Nein, Woyzeck, ich aergre mich nicht; Aerger ist ungesund,
ist unwissenschaftlich. Ich bin ruhig, ganz ruhig; mein Puls hat
seine gewoehnlichen sechzig, und ich sag’s Ihm mit der groessten
Kaltbluetigkeit. Behuete, wer wird sich ueber einen Menschen aergern,
ein‘ Mensch! Wenn es noch ein Proteus waere, der einem krepiert! Aber,
Woyzeck, Er haette nicht an die Wand pissen sollen –

WOYZECK: Sehn Sie, Herr Doktor, manchmal hat einer so ‚en Charakter,
so ’ne Struktur. – Aber mit der Natur ist’s was anders, sehn Sie; mit
der Natur – [er kracht mit den Fingern] -, das is so was, wie soll ich
sagen, zum Beispiel …

DOKTOR: Woyzeck, Er philosophiert wieder.

WOYZECK [vertraulich]: Herr Doktor, haben Sie schon was von der
doppelten Natur gesehn? Wenn die Sonn in Mattag steht und es ist, als
ging‘ die Welt in Feuer auf, hat schon eine fuerchterliche Stimme zu
mir geredt!

DOKTOR: Woyzeck, Er hat eine Aberratio.

WOYZECK [legt den Finger auf die Nase]: Die Schwaemme, Herr Doktor,
da, da steckt’s. Haben Sie schon gesehn, in was fuer Figuren die
Schwaemme auf dem Boden wachsen? Wer das lesen koennt!

DOKTOR: Woyzeck, Er hat die schoenste Aberratio mentalis partialis,
die zweite Spezies, sehr schoen ausgepraegt. Woyzeck, Er kriegt
Zulage! Zweite Spezies: fixe Idee mit allgemein vernuenftigem Zustand.

  • Er tut noch alles wie sonst? Rasiert seinen Hauptmann?

WOYZECK: Jawohl.

DOKTOR: Isst seine Erbsen?

WOYZECK: Immer ordentlich, Herr Doktor. Das Geld fuer die Menage
kriegt meine Frau.

DOKTOR: Tut seinen Dienst?

WOYZECK: Jawohl.

DOKTOR: Er ist ein interessanter Kasus. Subjekt Woyzeck, Er kriegt
Zulage, halt Er sich brav. Zeig Er seinen Puls. Ja.

    Mariens Kammer

[Marie. Tambourmajor.]

TAMBOURMAJOR: Marie!

MARIE [ihn ansehennd, mit Ausdruck]: Geh einmal vor dich hin! Ueber
die Brust wie ein Rind und ein Bart wie ein Loew. So ist keiner! – Ich
bin stolz vor allen Weibern!

TAMBOURMAJOR: Wenn ich am Sonntag erst den grossen Federbusch hab‘ und
die weisse Handschuh, Donnerwetter! Der Prinz sagt immer: Mensch, Er
ist ein Kerl.

MARIE [spoettisch]: Ach was! – [Tritt vor ihn hin:] Mann!

TAMBOURMAJOR: Und du bist auch ein Weibsbild! Sapperment, wir wollen
eine Zucht Tambourmajors anlegen. He? – [Er umfasst sie.]

MARIE [verstimmt]: Lass mich!

TAMBOURMAJOR: Wild Tier!

MARIE [heftig]: Ruehr mich an!

TAMBOURMAJOR: Sieht dir der Teufel aus den Augen?

MARIE: Meinetwegen! Es ist alles eins!

    Strasse

[Hauptmann. Doktor. Hauptmann keucht die Strasse herunter, haelt an;
keucht, sieht sich um.]

HAUPTMANN: Herr Doktor, rennen Sie nicht so! Rudern Sie mir Ihrem
Stock nicht so in der Luft! Sie hetzen sich ja hinter dem Tod drein.
Ein guter Mensch, der sein gutes Gewissen hat, geht nicht so schnell.
Ein guter Mensch – [Er erwischt den Doktor am Rock:] Herr Doktor,
erlauben Sie, dass ich ein Menschenleben rette!

DOKTOR: Pressiert, hh, pressiert!

HAUPTMANN: Herr Doktor, ich bin so schwermuetig, ich habe so was
Schwaermerisches; ich muss immer weinen, wenn ich meinen Rock an der
Wand haengen sehen -.

DOKTOR: Hm! Aufgedunsen, fett, dicker Hals: apoplektische
Konstitution. Ja, Herr Hauptmann, Sie koennen eine Apoplexia cerebri
kriegen; Sie koennen sie aber vielleicht auch nur auf der einen Seite
bekommen und auf der einen gelaehmt sein, oder aber Sie koennen im
besten Fall geistig gelaehmt werden und nur fort vegetieren: das sind
so ohgefaehr Ihre Aussichten auf die naechsten vier Wochen! Uebrigens
kann ich Sie versichern, dass Sie einen von den interessanten Faellen
abgeben, und wenn Gott will, dass Ihre Zunge zum Teil gelaehmt wird,
so machen wir unsterbliche Experimente.

HAUPTMANN: Herr Doktor, erschrecken Sie mich nicht! Es sind schon
Leute am Schreck gestorben, am blossen hellen Schreck. – Ich sehe
schon die Leute mit den Zitronen in den Haenden; aber sie werden
sagen, er war ein guter Mensch, ein guter Mensch – Teufel Sargnagel!

DOKTOR [haelt ihm den Hut hin]: Was ist das, hh? – Das ist ein
Hohlkopf, geehrtester Herr Exerzierzagel!

HAUPTMANN [macht eine Falte]: Was ist das, Herr Doktor? – Das ist
Einfalt, bester Herr Sargnagel! Haehaehae! Aber nichts fuer ungut! Ich
bin ein guter Mensch, aber ich kann auch, wenn ich will, Herr Doktor,
haehaehae, wenn ich will … – [Woyzeck kommt und will vorbeieilen]

  • He, Woyzeck, was hetzt Er sich so an uns vorbei. Bleib er doch,
    Woyzeck! Er laeuft ja wie ein offnes Rasiermesser durch die Welt, man
    schneidt sich an Ihm; Er laeuft, als haett er ein Regiment Kastrierte
    zu rasieren und wuerde gehenkt ueber dem laengsten Haar noch vor dem
    Verschwinden. Aber, ueber die langen Baerte – was wollt‘ ich doch
    sagen? Woyzeck: die langen Baerte …

DOKTOR: Ein langer Bart unter dem Kinn, schon Plinius spricht davon,
man muesst es den Soldaten abgewoehnen …

HAUPTMANN [faehrt fort]: Ha, ueber die langen Baerte! Wie is, Woyzeck,
hat Er noch nicht ein Haar aus einem Bart in seiner Schuessel
gefunden? He, Er versteht mich doch? Ein Haar eines Menschen, vom Bart
eines Sapeurs, eines Unteroffiziers, eines – eines Tambourmajors? He,
Woyzeck? Aber Er hat eine brave Frau. Geht Ihm nicht wie andern.

WOYZECK: Jawohl! Was wollen Sie sagen, Herr Hauptmann?

HAUPTMANN: Was der Kerl ein Gesicht macht! … Vielleicht nun auch
nicht in der Suppe, aber wenn Er sich eilt und um die Eck geht, so
kann er vielleicht noch auf ein Paar Lippen eins finden. Ein Paar
Lippen, Woyzeck. Kerl, Er ist ja kreideweiss!

WOYZECK: hh, ich bin ein armer Teufel – und hab’s sonst nichts auf der
Welt. hh, wenn Sie Spass machen –

HAUPTMANN: Spass ich? Dass dich Spass, Kerl!

DOKTOR: Den Puls, Woyzeck, den Puls! – Klein, hart, huepfend,
unregelmaessig.

WOYZECK: hh, die Erd is hoellenheiss – mir eiskalt, eiskalt – Die
Hoelle is kalt, wollen wir wetten. – – Unmoeglich! Mensch! Mensch!
Unmoeglich!

HAUPTMANN: Kerl, will Er – will Er ein paar Kugeln vor den Kopf haben?
Er ersticht mich mit seinen Augen, und ich mein‘ es gut mit Ihm, weil
Er ein guter Mensch ist, Woyzeck, ein guter Mensch.

DOKTOR: Gesichtsmuskeln starr, gespannt, zuweilen huepfend. Haltung
aufgeregt, gespannt.

WOYZECK: Ich geh‘. Es is viel moeglich. Der Mensch! Es is viel
moeglich. – Wir haben schoen Wetter, hh. Sehn Sie, so ein schoener,
fester, grauer Himmel; man koennte Lust bekommen, ein‘ Kloben
hineinzuschlagen und sich daran zu haengen, nur wegen des
Gedankenstriches zwischen Ja und wieder Ja – und Nein. hh, Ja und
Nein? Ist das Nein am Ja oder das Ja am Nein schuld? Ich will darueber
nachdenken. – [Geht mit breiten Schritten ab, erst langsamer, dann
immer schneller.]

HAUPTMANN: Mir wird ganz schwindlig vor den Menschen. Wie schnell!
Der lange Schlingel greift aus, als laeuft der Schatten von einem
Spinnbein, und der Kurze, das zuckelt. Der Lange ist der Blitz und der
Kleine der Donner. Haha … Grotesk! grotesk!

    Mariens Kammer

[Marie. Woyzeck.]

WOYZECK [sieht sie starr an und schuettelt den Kopf]: Hm! Ich seh‘
nichts, ich seh nichts. O man muesst’s sehen, man muesst’s greifen
koenne mit Faeusten!

MARIE [verschuechtert]: Was hast du, Franz? – Du bist hirnwuetig,
Franz.

WOYZECK: Eine Suende, so dick und so breit – es stinkt, dass man die
Engelchen zum Himmel hinausraeuchern koennt‘! Du hast ein‘ roten Mund,
Marie. Keine Blase drauf? Wie, Marie, du bist schoen wie die Suende –
kann die Totsuende so schoen sein?

MARIE: Franz, du redest im Fieber!

WOYZECK: Teufel! – Hat er da gestanden? So? So?

MARIE: Dieweil der Tag lang und die Welt alt is, koennen viele
Menschen an einem Platz stehen, einer nach dem andern.

WOYZECK: Ich hab ihn gesehn!

MARIE: Man kann viel sehn, wenn man zwei Auge hat und nicht blind is
und die Sonn scheint.

WOYZECK: Mensch! – [Geht auf sie los.]

MARIE: Ruehr mich an, Franz! Ich haett‘ lieber ein Messer in den Leib
als deine Hand auf meiner. Mein Vater hat mich nit anzugreifen gewagt,
wie ich zehn Jahre alt war, wenn ich ihn ansah.

WOYZECK: Weib! – Nein, es muesste was an dir sein! Jeder Mensch ist
ein Abgrund; es schwindelt einem, wenn man hinabsieht. – Es waere!
Sie geht wie die Unschuld. Nun, Unschuld, du hast ein Zeichen an dir.
Weiss ich’s? Weiss ich’s? Wer weiss es? – [Er geht.]

    Die Wachstube.

[Woyzeck. Andres.]

ANDRES [singt]:
Frau Wirtin hat ne brave Magd,
sie sitzt im Garten Tag und Nacht,
sie sitzt in ihrem Garten …

WOYZECK: Andres!

ANDRES: Nu?

WOYZECK: Schoen Wetter.

ANDRES: Sonntagswetter – Musik vor der Stadt. Vorhin – sind die
Weibsbilder hinaus; die Mensche dampfe, das geht!

WOYZECK [unruhig]: Tanz, Andres, sie tanze!

ANDRES: Im Roessel und in Sternen.

WOYZECK: Tanz, Tanz!

ANDRES: Meinetwege.
Sitzt in ihrem Garten,
bis dass das Gloecklein zwoelfe schlaegt,
und passt auf die Solda-aten.

WOYZECK: Andres, ich hab‘ kei Ruh.

ANDRES: Narr!

WOYZECK: Ich muss hinaus. Es dreht sich mir vor den Augen. Tanz, Tanz!
Wird sie heisse Haend habe! Verdammt, Andres!

ANDRES: Was willst du?

WOYZECK: Ich muss fort, muss sehen.

ANDRES: Du Unfried! Wegen dem Mensch?

WOYZECK: Ich muss hinaus, ’s is so heiss dahie.

    Wirtshaus

[Die Fenster offen, Tanz. Baenke vor dem Haus. Bursche.]

ERSTER HANDSWERKSBURSCH:
Ich hab‘ ein Hemdlein an, das ist nicht mein;
meine Seele stinkt nach Branndewein –

ZWEITER HANDWERKSBURSCH: Bruder, soll ich dir aus Freundschaft ein
Loch in die Natur machen? Vorwaerts! Ich will ein Loch in die Natur
maehen! Ich bin auch ein Kerl, du weisst – ich will ihm alle Floeh am
Leib totschlagen.

ERSTER HANDWERKSBURSCH: Meine Seele, meine Seele stinkt nach
Branndewein! – Selbst das Geld geht in Verwesung ueber!
Vergissmeinnicht, wie ist diese Welt so schoen! Bruder, ich muss ein
Regenfass voll greinen vor Wehmut. Ich wollt‘, unsre Nasen waeren zwei
Bouteillen, und wir koennten sie uns einander in den Hals giessen.

ANDRE [im Chor]:
Ein Jaeger aus der Pfalz
ritt einst durch einen gruenen Wald.
Halli, hallo, ha lustig ist die Jaegerei
allhier auf gruener Heid.
Das Jagen is mei Freud.

[Woyzeck stellt sich ans Fenster. Marie und der Tambourmajor tanzen
vorbei, ohne ihm zu bemerken.]

WOYZECK: Er! Sie! Teufel!

MARIE [im Vorbeitanzen]: Immer zu, imer zu –

WOYZECK [erstickt]: Immer zu – immer zu! – [Faehrt heftig auf und
sinkt zurueck auf die Bank:] Immer zu, immer zu! – [Schlaegt die
Haende ineinander:] Dreht euch. waelzt euch! Warum blaest Gott nicht
die Sonn aus, dass alles in Unzucht sich uebereinanderwaelzt, Mann
und Weib, Mensch und Vieh?! Tut’s am hellen Tag, tut’s einem auf den
Haenden wie die Muecken! – Weib! Das Weib is heiss, heiss! – Immer zu,
immer zu! – [Faehrt auf:] Der Kerl, wie er an ihr herum greift, an
ihrem Leib! Er, er hat sie – wie ich zu Anfang. – [Er sinkt betaeubt
zusammen.]

ERSTER HANDWERKSBURSCH [predigt auf dem Tisch]: Jedoch, wenn ein
Wandrer, der gelehnt steht an dem Strom der Zeit oder aber sich die
goettliche Weisheit beantwortet und sich anredet: Warum ist der
Mensch? Warum ist der Mensch? – Aber wahrlich, ich sage euch: Von was
haette der Landmann, der Weissbinder, der Schuster, der Arzt leben
sollen, wenn Gott den Menschen nicht geschaffen haette? Von was haette
der Schneider leben sollen, wenn er dem Menschen nicht die Empfindung
der Scham eingepflanzt haette, von was der Soldat, wenn er ihm nicht
mit dem Beduerfnis sich totzuschlagen ausgeruestet haette? Darum
zweifelt nicht – ja, ja, es ist lieblich und fein, aber alles Irdische
ist uebel, selbst das Geld geht in Verwesung ueber. Zum Beschluss,
meine geliebten Zuhoerer, lasst uns noch uebers Kreuz pissen, damit
ein Jud stirbt!

[Unter allgemeinem Gejohle erwacht Woyzech und rast davon.]

    Freies Feld

WOYZECK: Immer zu! Immner zu! Hisch, hasch! So gehn die Geigen und die
Pfeifen. – Immer zul Immer zu! – Still, Musik! Was spricht da unten?

  • Recht sich gegen den Boden: Ha, was, was sagt ihr? Lauterl Lauter!
    Stich, stich die Zickwolfin tot? – Stich, stich die Zickwolfin tot!
  • Soll ich! Muss ich? Hoer‘ ich’s da auch? – Sagt’s der Wind auch? –
    Hoer‘ ich’s immer, immer zu: stich tot, tot! Ein Zimmer in der Kaserne

[Nacht. Andres und Woyzech in einem Bett.]

WOYZECK [leise]: Andres!

[Andres murmelt im Schlaf.]

WOYZECK [schuettelt Andres]: He, Andres! Andres!

ANDRES: Na was is?

WOYZECK: Ich kann nit schlafen! Wenn ich die Aug zumach‘, dreht
sich’s immer, und ich hoer‘ die Geigen, immer zu, immer zu. Und dann
spricht’s aus der Wand. Hoerst du nix?

ANDRES: Ja – lass sie tanze! Einer is mued, und dann Gott behuet uns,
amen.

WOYZECK: Es redt lmmer: stich! stich! und zieht mir zwischen den Augen
wie ein Messer –

ANDRES: Schlaf, Narr! – [Er schlaeft wieder ein.]

WOYZECK: Immer zu! Immer zu!

    Der Hof des Doktors

[Studenten und Woyzeck unten, der Doktor am Dachfenster.]

DOKTOR: Meine Herren, ich bin auf dern Dach wie David, als er
die Bathseba sah; aber ich sehe nichts als die culs de Paris der
Maedchenpension im Garten trocknen. Meine Herren, wir sind an der
wichtigen Frage ueber das Verhaeltnis des Subjekts zum Objekt.
Wenn wir nur eins von den Dingen nehmen, worin sich die organische
Selbstaffirmation des Goettlichen, auf einem so hohen Standpunkte,
manifestiert, und ihre Verhaeltnisse zum Raum, zur Erde, zum
Planetarischen untersuchen, meine Herren, wenn ich diese Katze zum
Fenster hinauswerfe: wie wird diese Wesenheit sich zum centrum
gravitationis gemaess ihrem eigenen Instinkt verhalten? – He, Woyzeck

  • [bruellt] -, Woyzeck!

WOYZECK [faengt die Katze auf]: Herr Doktor, sie beisst!

DOKTOR: Kerl, Er greift die Bestie so zaertlich an, als waer’s seine
Grossmutter. – [Er kommt herunter.]

WOYZECK: Herr Doktor, ich hab’s Zittern.

DOKTOR [ganz erfreut]: Ei, ei! Schoen, Woyzeck! – Reibt sich die
Haende. [Er nimmt die Katze:] Was seh‘ ich, meine Herren, die neue
Spezies Hasenlaus, eine schoene Spezies … – [Er zieht eine Lupe
heraus, die Katze laeuft fort.] – Meine Herren, das Tier hat keinen
wissenschaftlichen Instinkt … Die koennen dafuer was anders sehen.
Sehen Sie: der Mensch, seit einem Vierteljahr isst er nichts als
Erbsen; bemerken Sie die Wirkung, fuehlen Sie einmal: Was ein
ungleicher Puls! Der und die Augen!

WOYZECK: Herr Daktor, es wird mir dunkel! – [Er setzt sich.]

DOKTOR: Courage, Woyzeck! Noch ein paar Tage, und dann ist’s fertig.
Fuehlen Sie, meine Herren, fuehlen Sie! – [Sie betasten ihm Schlaefe,
Puls und Busen.] – Apropos, Woyzeck, beweg den Herren doch einmal die
Ohren! Ich hab‘ es Ihnen schon zeigen wollen, zwei Muskeln sind bei
ihm taetig. Allons, frisch!

WOYZECK: Ach, Herr Doktor!

DOKTOR: Bestie, sall ich dir die Ohren bewegen? Willst du’s machen wie
die Katze? So, meine Herren! Das sind so Uebergaenge zum Esel, haeufig
auch die Folge weiblicher Erziehung und die Muttersprache. Wieviel
Haare hat dir die Mutter zum Andenken schon ausgerissen aus
Zaertlichkeit? Sie sind dir ja ganz duenn geworden seit ein paar
Tagen. Ja, die Erbsen, meine Herren!

    Kasernenhof

WOYZECK: Hast nix gehoert?

ANDRES: Er is da, noch mit einem Kameraden.

WOYZECK: Er hat was gesagt.

ANDRES: Woher weisst du’s? Was soll ich’s sagen? Nu, er lachte, und
dann sagt er: Ein koestlich Weibsbild! Die hat Schenkel, und alles so
heiss!

WOYZECK [ganz kalt]: So, hat er das gesagt? Von was hat mir doch hat
nacht getraeumt? War’s nicht von einem Messer? Was man doch naerrische
Traeume hat!

ANDRES: Wohin, Kamerad?

WOYZECK: Meim Offizier Wein holen. – Aber, Andres, sie war dach ein
einzig Maedel.

ANDRES: Wer war?

WOYZECK: Nix. Adies! – [Ab.]

    Wirtshaus

[Tambourmajor. Woyzeck. Leute.]

TAMBOURMAJOR: Ich bin ein Mann! – [Schlaegt sich auf die Brust:] Ein
Mann, sag‘ ich. Wer will was? Wer kein be- soffner Herrgott ist, der
lass sich von mir. Ich will ihn die Nas ins Arschloch pruegeln! Ich
will – [Zu Woyzeck:] Du Kerl, sauf! Ich wollt‘ die Welt waer‘ Schnaps,
Schnaps – der Mann muss saufen! – [Woyzech pfeift.] – Kerl, soll ich
dir die Zung aus dem Hals ziehn und sie um den Leib herumwickeln? –
Sie ringen, Woyzeck verliert. – Soll ich dir noch so viel Atem lassen
als ‚en Altweiberfurz, soll ich? – [Woyzech setzt sich erschoepft
zitternd auf eine Bank.] – Der Kerl soll dunkelblau pfeifen.
Branndewein, das ist mein Leben;
Branndwein gibt Courage!

EINE: Der hat sein Fett.

ANDRE: Er blut‘.

WOYZECK: Eins nach dem andern.

    Kramladen

[Woyzeck. Der Jude.]

WOYZECK: Das Pistolchen ist zu teuer.

JUDE: Nu, kauft’s oder kauft’s nit, was is?

WOYZECK: Was kost‘ das Messer?

JUDE: ’s ist ganz grad. Wollt Ihr Euch den Hals mit abschneiden? Nu,
was is es? Ich geb’s Euch so wohlfeil wie ein andrer. Ihr sollt Euern
Tod wohifeil haben, aber doch nit umsonst. Was is es? Er soll ein
oekonomischer Tod haben.

WOYZECK: Das kann mehr als Brot schneiden –

JUDE: Zwee Grosche.

WOYZECK: Da! – Geht ab.

JUDE: Da! Als ob’s nichts waer! Und es is doch Geld. – Du Hund!

    Mariens Kammer

NARR [liegt und erzaehlt sich Maerchen an den Fingern]: Der hat die
goldne Kron, der Herr Koenig … Morgen hol‘ ich der Frau Koenigin ihr
Kind … Blutwurst sagt: komm, Leber- wurst …

MARIE [blaettert in der Bibel]: „Und ist kein Betrug in seinem Munde
erfunden“: … Herrgott, Herrgott! Sieh mich nicht an! – [Blaettert
weiter:] „Aber die Pharisaeer brachten ein Weib zu ihm, im Ehebruch
begriffen, und stelleten sie ins Mittel dar … Jesus aber sprach:
So verdamme ich dich auch nicht. Geh hin und suendige hinfort nicht
mehr!“ – [Schlaegt die Haende zusammen:] Hergott! Hergott! Ich kann
nicht! – Herrgott, gib mir nur so viel, dass ich beten kann. – [Das
Kind draengt sich an sie.] – Das Kind gibt mir einen Stich ins Herz.

  • [Zum Narrn:] Karl! Das bruest‘ sich in der Sonne! – [Narr nimmt
    das Kind und wird still.] – Der Franz ist nit gekommen, gestern nit,
    heut nit. Es wird heiss hier! – [Sie macht das Fenster auf und liest
    wieder:] „Und trat hinten zu seinen Fuessen und weinete, und fing an,
    seine Fuesse zu netzen mit Traenen und mit den Haaren ihres Hauptes
    zu trocknen, und kuessete seine Fuesse und salbete sie mit Salbe
    …“ [Schlaegt sich auf die Brust:] Alles tot! Heiland! Heiland! ich
    moechte dir die Fuesse salben! – Kaserne

[Andres. Woyzeck kramt in seinen Sachen.]

WOYZECK: Das Kamisolchen, Andres, ist nit zur Montur: du kannst’s
brauchen, Andres.

ANDRES [ganz starr, sagt zu allem]: Jawohl.

WOYZECK: Das Kreuz meiner Schwester und das Ringlein.

ANDRES: Jawohl.

WOYZECK: Ich hab‘ auch noch ein Heiligen, zwei Herze und schoen Gold –
es lag in meiner Mutter Bibel, und da steht:
Herr, wie dein Leib war rot und wund,
so lass mein Herz sein aller Stund.
Mein Mutter fuehlt nur noch, wenn ihr die Sonn auf die Haend scheint –
das tut nix.

ANDRES: Jawohl.

WOYZECK [zieht ein Papier hervor]: Friedrich Johann Franz Woyzeck,
Wehrmann, Fuesilier im 2. Regiment, 2. Bataillion 4. Kompanie, geboren
Mariae Verkuendigung, den 20. Juli. – Ich bin heut alt 30 Jahr, 7
Monat und 12 Tage.

ANDRES: Franz, du kommst ins Lazarett. Armer, du musst Schnaps trinken
und Pulver drin, das toet‘ das Fieber.

WOYZECK: Ja, Andres, wenn ein Schreiner die Hobelspaene sammelt, es
weiss niemand, wer seinen Kopf drauflegen wird.

    Strasse

[Marie mit Maedchen vor der Haustuer, Grossmutter; spaeter Woyzeck]

MAEDCHEN:
Wie scheint die Sonn am Lichtmesstag
und steht das Korn im Bluehn.
Sie gingen wohl die Wiese hin,
sie gingen zu zwein und zwein.
Die Pfeifer gingen voran,
die Geiger hinterdrein,
sie hatten rote Socken an …

ERSTES KIND: Das ist nit schoen.

ZWEITES KIND: Was willst du auch immer!

ERSTES KIND: Marie, sing du uns!

MARIE: Ich kann nit.

ERSTES KIND: Warum?

MARIE: Darum.

ZWEITES KIND: Aber warum darum?

DRITTES KIND: Grossmutter, erzaehl!

GROSSMUTTER: Kommt, ihr kleinen Krabben! – Es war einmal ein arm Kind
und hatt‘ kein Vater und keine Mutter, war alles tot, und war niemand
mehr auf der Welt. Alles tot, und es is hingangen und hat gesucht Tag
und Nacht. Und weil auf der Erde niemand mehr war, wollt’s in Himmel
gehn, und der Mond guckt es so freundlich an; und wie es endlich zum
Mond kam, war’s ein Stueck faul Holz. Und da is es zur Sonn gangen,
und wie es zur Sonn kam, war’s ein verwelkt Sonneblum. Und wie’s zu
den Sternen kam, waren’s kleine goldne Muecken, die waren angesteckt,
wie der Neuntoeter sie auf die Schlehen steckt. Und wie’s wieder auf
die Erde wollt, war die Erde ein umgestuerzter Hafen. Und es war ganz
allein. Und da hat sich’s hingesetzt und geweint, und da sitzt es noch
und is ganz allein.

WOYZECK [erscheint]: Marie!

MARIE [erschreckt]: Was is?

WOYZECK: Marie, wir wollen gehn. ’s is Zeit.

MARIE: Wohin?

WOYZECK: Weiss ich’s?

    Waldsaum am Teich

[Marie und Woyzeck.]

MARIE: Also dort hinaus is die Stadt. ’s is finster.

WOYZECK: Du sollst noch bleiben. Komm, setz dich!

MARIE: Aber ich muss fort.

WOYZECK: Du wirst dir die Fuesse nit wund laufe.

MARIE: Wie bist du nur auch!

WOYZECK: Weisst du auch, wie lang es jetzt is, Marie?

MARIE: Am Pfingsten zwei Jahr.

WOYZECK: Weisst du auch, wie lang es noch sein wird?

MARIE: Ich muss fort, das Nachtessen richten.

WOYZECK: Friert’s dich, Marie? Und doch bist du warm. Was du heisse
Lippen hast! Heiss, heissen Hurenatem! Und doch moecht‘ ich den Himmel
geben, sie noch einmal zu kuessen. – Friert’s dich? Wenn man kalt is,
so friert man nicht mehr. Du wirst vom Morgentau nicht frieren.

MARIE: Was sagst du?

WOYZECK: Nix.

[Schweigen.]

MARIE: Was der Mond rot aufgeht!

WOYZECK: Wie ein blutig Eisen.

MARIE: Was hast du vor, Franz, du bist so blass. – [Er holt mit dem
Messer aus.] – Franz halt ein! Um des Himmels willen, Hilfe, Hilfe!

WOYZECK [sticht drauflos:] Nimm das und das! Kannst du nicht sterben?
So! So! – Ha, sie zuckt noch; noch nicht? Noch nicht? Immer noch.

  • [Stoesst nochmals zu.] – Bist du tot! Tot! Tot! – [Er laesst das
    Messer fallen und laeuft weg.] Das Wirtshaus

WOYZECK: Tanzt alle, immer zu! Schwitzt und stinkt! Er holt euch doch
einmal alle! – [Singt:]
Ach. Tochter, lieb Tochter
was hast du gedenkt,
dass du dich an die Landkutscher
und die Fuhrleut hasst gehenkt.
[Er tanzt:] So, Kaethe, setz dich! Ich hab‘ heiss heiss! – [Er zieht
den Rock aus.] – Es ist einmal so, der Teufel holt die eine und laesst
die andre laufen. Kaethe, du bist heiss! War- um denn? Kaethe, du
wirst auch noch kalt werden. Sei vernuenftig. – Kannst du nicht
singen?

KAETHE [singt]:
Ins Schwabenland, das mag ich nicht,
und lange Kleider trag‘ ich nicht,
denn lange Kleider, spitze Schuh,
die kommen keiner Dienstmagd zu.

WOYZECK: Nein, keine Schuh, man kann auch ohne Schuh in die Hoell
gehn.

KAETHE [singt]:
O pfui mein Schatz, das war nicht fein,
behalt dein Taler und schlaf allein.

WOYZECK: Ja, wahrhaftig, ich moecte mich nicht blutig machen.

KAETHE: Aber was hast du an deiner Hand?

WOYZECK: Ich? Ich?

KAETHE: Rot! Blut!

[Es stellen sich Leute um sie.]

WOYZECK: Blut? Blut?

WIRT: Uu – Blut!

WOYZECK: Ich glaub‘, ich hab‘ mich geschnitten, da an der rechten
Hand.

WIRT: Wie kommt’s aber an den Ellenbogen?

WOYZECK: Ich hab’s abgewischt.

WIRT: Was, mit der rechten Hand an den rechten Ellenbogen Ihr seid
geschickt!

NARR: Und da hat der Ries gesagt: Ich riech‘, ich riech‘
Menschenfleisch. Puh, das stinkt schon!

WOYZECK: Teufel, was wollt ihr? Was geht’s euch an? Platz, oder der
erste – Teufel! Meint ihr, ich haett‘ jemand umgebracht? Bin ich ein
Moerder? Was gafft ihr? Guckt euch selbst an! Platz da! – [Er laeuft
hinaus.]

    Am Teich

WOYZECK [allein]: Das Messer? Wo ist das Messer? Ich hab‘ es da
gelassen. Es verraet mich! Naeher, noch naeher! Was is das fuer ein
Platz? Was hoer‘ ich? Es ruehrt sich was. Still. – Da in der Naehe.
Marie? Ha, Marie! Still. Alles still! Was bist du so bleich, Marie?
Was hast du eine rote Schnur um den Hals? Bei wem hast du das Halsband
verdient mit deinen Suenden? Du warst schwarz davon, schwarz! Hab‘ ich
dich gebleicht? Was haengen deine Haare so wild? Hast du deine Zoepfe
heute nicht geflochten? … – Das Messer, das Messer! Hab‘ ich’s? So!

  • [Er laeuft zum Wasser.] So, da hinunter! – [Er wirft das Messer
    hinein.] – Es taucht in das dunkle Wasser wie ein Stein. – Nein, es
    liegt zu weit vorn, wenn sie sich baden. – [Er geht in den Teich und
    wirft weit.] – So, jetzt – aber im Sommer, wenn sie tauchen nach
    Muscheln? – Bah, es wird rostig, wer kann’s erkennen. – Haett‘ ich es
    zerbrochen! – – Bin ich noch blutig? Ich muss mich waschen. Da ein
    Fleck, und da noch einer …

[Es kommen Leute.]

ERSTE PERSON: Halt!

ZWEITE PERSON: Hoerst du? Still! Dort!

ERSTE: Uu! Da! Was ein Ton!

ZWEITE: Es ist das Wasser, es ruft: Schon lang ist niemand ertrunken.
Fort! Es ist nicht gut, es zu hoeren!

ERSTE: Uu! Jetzt wieder! – Wie ein Mensch, der stirbt!

ZWEITE: Es ist unheimlich! So dunstig, allenthalben Nebelgrau – und
das Summen der Kaefer wie gesprungne Glocken. Fort!

ERSTE: Nein. zu deutlich, zu laut! Da hinauf! Komm mit!

*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK, WOYZECK ***

Quelle: https://archive.org/stream/woyzeck05322gut/7woyz10.txt

Berg, Alban – Wozzeck 1970 (Oper)

Kurzbeschreibung

In his autobiography Opera Years Rolf Liebermann wrote: “Of all the film versions of operas in which I was involved, my favourite has always been Wozzeck, mainly because the interpreters and location were so convincingly authentic.” And truly, this film adoption of Alban Berg’s Wozzeck, recorded in 1970, fascinated with its constantly developing tension from the first tone to the last accord. Indeed the cast could not has been any better than in this production: Toni Blankenheim as Wozzeck and Sena Jurinac as Marie. Clearly and precisely in picture and speech, this film can truly be considered a classic and is now available on DVD for the first time.

Synopsis

„Interpreten“
Wozzeck – Toni Blankenheim
Drum Major – Richard Cassilly
Andres – Peter Haage
Captain – Gerhard Unger
Marie – Sena Jurinac

The Hamburg Philharmonic State Orchestra
Leitung: Bruno Maderna


„Aufnahme“
Historische Studioproduktion der Hamburger Staatsoper 1970


„Alban Berg – Wozzeck“
Rolf Liebermann schreibt in seiner Autobiographie Opernjahre: „Von allen Opernfilmen, an denen ich beteiligt war, ist mir der Wozzeck am liebsten, hauptsächlich wegen der überzeugenden Echtheit der Interpreten und des Schauplatzes“. Und in der Tat fasziniert diese Verfilmung von Alban Bergs Wozzeck durch die konstant ansteigende Dramatik vom ersten Ton bis zum letzen Akkord. Auch die Besetzung könnte nicht besser sein, um sich diese erste abendfüllende atonale Oper zu erschließen: Toni Blankenheim als Wozzeck und Sena Jurinac als Marie. Klar und deutlich in Bild und Sprache ist dieser Film aus dem Jahr 1970 zu Recht ein Klassiker, der nun erstmals auf DVD veröffentlicht wird.

Woyzeck ist ein ungarischer Dramafilm von 1994, der von János Szász geleitet wird.

User Reviews

Quelle: https://www.imdb.com/title/tt0111749/

A Hungarian updating of a classic German tragedy21 March 2000 | by Richard_Harland_Smith – See all my reviews

János Szász’s WOYZECK updates Georg Büchman’s 1837 tragedy, shifting the action from the German provinces to modern Budapest and recasting its soldier protagonist as a lowly railway flagman. Lajos Kovács (WINGS OF DESIRE) stars as the misused Woyzeck, who ekes out a miserable existence sweeping train tracks, running errands for a bullying army captain and acting as a human guinea pig for a local doctor with ideas about free will. When his common-law wife begins an affair with a local cop, Woyzeck’s pocket Bible and near-starvation diet point him on a downward spiral of twisted redemption.

While director Szász has taken certain liberties with the text – he eliminates the character of Andres, having Woyzeck confide in an unnamed youth who may be the specter of the son his rage will soon orphan – his adaptation is remarkably faithful to Büchman’s theme of the dehumanization of the common man by the machinations of Order and fleshes out the play’s unsympathetic ciphers, making even the manipulative authority figures pathetically understandable. Tibor Máthé’s searing black and white cinematography gives the film, with its industrial winter landscape, a nigh science-fiction ambiance, putting the viewer in the mind of Andrei Tarkovsky’s STALKER and David Lynch’s ERASERHEAD, whose befuddled Henry Spencer could be a cousin to Woyzeck.

Woyzeck

Bleak but beautiful, „Woyzeck“ is an involving, moving, intelligent transposition of the Georg Buechner play that should see plenty of fest and specialized tube play, with limited arthouse mileage also a possibility.

ByDEREK ELLEY

Derek Elley

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With: Woyzeck – Lajos Kovacs Marie – Diana Vacaru The Doctor – Peter Haumann The Officer – Aleksandr Porokhovchikov The Policeman – Sandor Gaspar The Child – Sandor Varga

Bleak but beautiful, “Woyzeck” is an involving, moving, intelligent transposition of the Georg Buechner play that should see plenty of fest and specialized tube play, with limited arthouse mileage also a possibility.

Pic is very different in look and feel from the best-known previous film version, Werner Herzog’s 1979 outing. Though sticking closely to the play’s text , action here is transferred from the original’s army base setting to a Hungarian railroad yard, where unshaven, sweat-stained lug Woyzeck (magnificently played by Lajos Kovacs) drags out an existence as a point man in a small sentry box, his dreary life regulated by train schedules and orders barked over a p.a. system by his disciplinarian boss (Aleksandr Porokhovchikov).

Woyzeck’s personal life is equally unsatisfactory. His beautiful young wife, Marie (Diana Vacaru), rejects his animal attempts at sex, preferring the embraces of a local policeman (Sandor Gaspar). Woyzeck’s only friends are the station doctor (Peter Haumann) and a young ragamuffin (Sandor Varga) who lives in the railroad sidings.

The incessant catalog of humiliations finally tips Woyzeck over the edge: He slits the throat of his boss during one of his regular shaving sessions and later knifes Marie in a deserted quarry.

Though the pic sounds unremittingly depressing, young Magyar helmer Janos Szasz, in only his second feature, turns the material into an intense, almost poetic chorale to the dispossessed underdog, with confident handling of his mixed-nationality cast and a true sense of knowing exactly where the pic is headed.

Precision lensing by Tibor Mathe, exploiting the rich blacks and graded grays of genuine b&w stock and processing, and atmospheric use of smoke effects in exteriors, is a major plus throughout. More involving on an emotional level are the rich performances and a music track of soothing extracts from Baroque composers Purcell and Pergolesi.

As the dumb, half-comprehending, bull-like Woyzeck, well-known Hungarian thesp Kovacs anchors the movie with a striking performance of suppressed power. Vacaru (voiced by Hungarian actress Eva Igo) is just right as the beautiful, dissatisfied Marie, and Porokhovchikov is commanding as Woyzeck’s arrogant boss.

Pic copped five awards at the 25th Hungarian Film Week in Budapest, including best actor (Kovacs), shared best director, cameraman and the foreign critics’ Gene Moskowitz Award, named after the late Variety scribe. Tech credits are all tops.

Woyzeck

Hungarian

PRODUCTION: A Magic Media production, in association with Hetfoi Muhely Studio, Magyar Televizio. (International sales: Cinemagyar, Budapest.) Produced by Peter Barbalics. Directed, written by Janos Szasz, from the play by Georg Buechner.

CREW: Camera (b&w), Tibor Mathe; editor, Anna Kornis; music, various; art direction, Peter Mandoki; costume design, Agnes Jodal; sound (Dolby), Istvan Sipos. Reviewed at Hungarian Film Week, Feb. 7, 1994. Running time: 94 min.

WITH: Woyzeck – Lajos Kovacs Marie – Diana Vacaru The Doctor – Peter Haumann The Officer – Aleksandr Porokhovchikov The Policeman – Sandor Gaspar The Child – Sandor Varga

Woyzeck Im Kiez

Olivier Vaccaro

Olivier Vaccaro

 Zu Georg Büchners 200. Geburtstag zeigt ARTE eine neue, zeitgenössische „Woyzeck“-Verfilmung mit Tom Schilling in der Hauptrolle. Der Film verlegt Büchners „Woyzeck“ in den Berliner Bezirk Wedding und wirft die Frage auf: Was ist deutsch?

Sein Restaurant heißt Die Garnision, in altdeutschen Lettern wirbt es mit dem Spruch: „Trink dein Bier hier“, und auf der Karte steht Schnitzel. Woyzeck, der Inhaber, ist unter 30, lebt den Traum vom eigenen Lokal und hat das schönste Mädchen im Kiez zur Freundin, Marie mit der Alabasterhaut. Der Traum wird zum Albtraum, als Woyzeck Die Garnision an die islamische Mafia verliert. Aus ihr wird das arabische Lokal Habibi, der Deutsche bleibt gedemütigt und hochverschuldet zurück.

Das ist Woyzeck 2013 in dem gleichnamigen Film von Regisseur Nuran David Calis nach dem Dramenfragment von Georg Büchner: ein Verlierer und ein Fremder im eigenen Land. Tom Schilling spielt den verzweifelten jungen Mann, Nora von Waldstätten eine verstörte, einsame Marie – ein Paar, das mit seinem Sohn in beengten Verhältnissen lebt. Woyzeck will die Familie durchbringen, seine Schulden bezahlen, sein Restaurant und seine Zukunft wiederhaben, kurz, sich nicht im eigenen Viertel von Türken und Arabern „verarschen lassen“, wie er sagt. Verbissen jongliert er mit drei Jobs: zweien am Tag, einem in der Nacht. Im Habibi ist er Küchenjunge, weil er zeigen will, dass er nicht kleinzukriegen ist. In Berliner U-Bahn-Schächten sammelt er nachts den Müll von den Schienen und für einen Arzt testet er illegal Medikamente. Der Job ist lukrativ, aber die Nebenwirkungen rauben ihm den Schlaf, die Potenz und den Verstand. Woyzeck ist zur Laborratte geworden, des Geldes wegen,
hat Halluzinationen und verliert mehr und mehr die Kontrolle über sein Leben. Nachts steht er vor dem Badezimmerspiegel und schaut sich an, als suche er Spuren seines früheren Selbst in seinem Gesicht. Woyzeck ist aus der Welt gefallen und sein Sturz ist unaufhaltsam.

Irgendwo in Deutschland

Die Figur des einfachen Soldaten Woyzeck schuf der Schriftsteller Georg Büchner 1836/37: Von aller Welt verhöhnt, gequält und betrogen, wird Woyzeck schließlich zum Mörder seiner Geliebten Marie. Der Film von Nuran David Calis transportiert die bei Büchner militärisch geprägte Welt ins 21. Jahrhundert, nach Berlin-Wedding. Bei Büchner dient Woyzeck einem Hauptmann, der im Film als der arabische Besitzer des Restaurants Habibi auftritt: Er schikaniert Woyzeck und predigt ihm Moral. Büchners Tambourmajor, der Marie verführt, ist bei Calis ein brutaler, charismatischer Zuhälter, der den Kiez kontrolliert. Und der Doktor, der Büchners Woyzeck in seinem Ernährungsexperiment Erbsen essen lässt, wird im Film zum perversen Arzt, der an Woyzeck Drogen testet, die wiederum die Menschen im Kiez gefügig machen. Und die Deutschen? Sie sind der Bodensatz der Gesellschaft: Huren, Bettler, arme Schlucker. Eine verkehrte Welt? Nein, sagt Calis, dessen großes Thema ethnisch-religiöse Konflikte sind. Für ihn stellt „Woyzeck“ nichts auf den Kopf, sondern spiegelt die Realität wider. „Wenn man an die Ränder unserer Gesellschaft geht, sind Deutsche unter Migranten die Minderheit. Hier stimmt unser ‚bürgerlicher‘ Wertekanon nicht mehr, andere Werte drängen sich in den Vordergrund. Sie wirken auf die Hauptfigur ein und greifen sie an. Ob sie gut oder schlecht sind, darüber urteile ich nicht.“ Und so stellt der Film, ohne eine Antwort mitzuliefern, die Frage: Was ist heute deutsch?

Calis’ Sicht ist nicht ganz einvernehmlich aufgenommen worden, man hat dem Regisseur vorgeworfen, mit seinem Film islamfeindlich zu sein. Calis entgegnet, dass er gesellschaftliche Stimmungen und Ängste in seine Arbeit aufnehme wie ein Computertomograf, der einen Körper abtastet: „Wenn ich eine Geschichte in einem Milieu ansiedele, muss ich es zeigen, wie es ist. Und nicht, wie es sich der politisch ‚korrekte‘ Mensch wünscht.“ Gleichzeitig wirkt das Milieu künstlich, und das ist gewollt: Calis wollte kein Lokalkolorit, denn dieser Ort könnte überall sein, irgendwo in Deutschland, am Rand einer Großstadt, weshalb die Figuren Hochdeutsch sprechen anstatt, wie es dem Berliner Wedding entspräche, derbe zu berlinern.

Zitate wie Wasserzeichen

Während das Filmsetting Jahrhunderte von Büchner entfernt ist, verweist die Sprache deutlich auf ihn, wenn die Figuren Original-Büchner-Text sprechen. Ganze Passagen sind ins Drehbuch eingebaut. Wenn Woyzeck beispielsweise im Wahn redet, monologisiert er über die Freimaurer, den Menschen als Abgrund oder er sagt, es sei „alles still, als wär’ die Welt tot“. „So sehr ich das Kino und das Fernsehen liebe“, sagt Calis, „so wenig möchte ich, dass der Zuschauer seinen Kopf abschaltet. Er soll sich reiben an dem, was er sieht und hört. Die Originalzitate wirken wie Wasserzeichen durch den Film. Sie sind für mich eine Art Gegenprobe und Referenz zum Original. Der Zuschauer soll immer wissen, woher die Geschichte kommt und wer sie geschrieben hat. Das Original ist das Fundament, auf dem dieser Film steht.“

Warum Literatur als Film?

Schon 2009 brachte Calis „Frühlings Erwachen“ nach Wedekinds Drama von 1891 auf die Leinwand – in einer Fassung, die die Sehnsüchte und Nöte der jungen Generation von heute zeigt. Warum er Stoffe anderer Epochen in die Gegenwart holt? Weil gute Literatur die richtigen Fragen an unsere Zeit stelle. Der „Woyzeck“-Film zeige unsere Gesellschaft, die mehr und mehr verrohe: „Gerade jetzt, wo alles auseinanderzufliegen droht, kann gute Literatur ein Kompass sein.“ Was dabei mit den Menschen geschehe, demonstriere „Woyzeck“ wie kaum ein anderer Text. Er setze da an, wo viele Geschichten aufhörten: „In Büchners ‚Woyzeck‘ geht es immer weiter bergab mit dem Menschen. Jede Szene öffnet eine Tür in die Hölle menschlicher Existenz.“ Calis selbst lebte neun Jahre lang, fast seine ganze Kindheit und Jugend, mit seinen türkisch-armenischen Eltern im politischen Asyl in Deutschland. Eine Zeit, von der er sagt, er sei froh, sie überlebt zu haben. Seinem Vater ist das nicht gelungen. Die Mutter hatte, wie Woyzeck, drei Jobs am Tag – sie putzte, um die Familie über Wasser zu halten. Calis half ihr abends, damit sie etwas Schlaf bekam. „Das ist die Realität, die uns umgibt“, sagt er, „und ja, genau davon handelt dieser Film. Woyzeck geht an dieser Welt kaputt.“

Katja Ernst für das ARTE Magazin

ARTE Literaturverfilmung 

Woyzeck · Mo, 14.10. · 22.40 

Sendetermin auch bei 3sat: ·Sa, 19.10. · 22.00

Olivier Vaccaro

Olivier Vaccaro

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Büchners „Woyzeck“

„Woyzeck“ von Georg Büchner (1813–1837) blieb durch den frühen Tod des Autors unvollendet;das Dramenfragment ist heute eines der meistgespielten Stücke der deutschen Literatur, weltweit inspiriert seine offene Form Künstler aus allen Disziplinen.1836/37 geschrieben, erschien es erstmals 1879 und kam 1913 in München zur Uraufführung. Verfilmt wurde „Woyzeck“ seit 1947 zwölf Mal, unter anderem 1979 von Werner Herzog mit Klaus Kinski und Eva Mattes in den Hauptrollen

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Kategorien: Oktober 2013

14. Oktober 2013, 13:01 Uhr

„Woyzeck“ auf ArteVerzweifelt im Versuchslabor

Regisseur Nuran David Calis verlagert Georg Büchners Drama „Woyzeck“ für Arte in einen Berliner Kiez. Dort lebt die Hauptfigur als Deutscher in der Minderheit. Tom Schilling spielt sie großartig.Von Renate Meinhof

Es könnte der Wedding sein, oder Neukölln. Ein Stadtteil jedenfalls, in dem Türken und Araber in der Mehrheit sind. Ein Kiez, in den die Polizei sich längst nicht mehr hineintraut. Eine gesetzlose Zone, Ein-Euro-Shops und heruntergekommene Straßenzüge, aufgeteilt zwischen Gangs aus aller Herren Länder. Für Dramen ein geeignetes Pflaster.

Für Dramen, wie „Woyzeck“ eines ist. Mit dem gleichnamigen Film nach Georg Büchners Fragment setzen Arte und 3sat ihre Reihe der Theaterfilme fort. Der Regisseur Nuran David Calis – er ist türkisch-armenisch-jüdischer Abstammung – versetzt das Geschehen also nach Berlin.

Woyzeck schuftet in den Schächten der U-Bahn, wo er nachts, wenn die Züge nicht rollen, den Dreck aufsammelt und nebenbei Ratten und Mäuse erschlägt. Tagsüber schneidet er Gemüse in einem Restaurant, das einem gottesfürchtigen Muslimen gehört. Früher war er der Besitzer, er, Woyzeck, aber: „Wer isst hier schon Schnitzel? Alles isst hier Kebap!“ Um etwas mehr Geld zu verdienen, stellt er sich für eine zweifelhafte medizinische Studie zur Verfügung, schluckt Pillen, die ihn impotent machen, ihn halluzinieren lassen.

Völliges Scheitern und Zerbrechen

Einzig die Liebe zu Marie, kühl gespielt von Nora von Waldstätten, und dem gemeinsamen Kind ist Woyzecks Halt. Aber Marie kann den Avancen des Tambourmajors nicht widerstehen. In Calis‘ Film ist der Tambourmajor eine Kiez-Größe, reich geworden durch Zuhälterei, ein Zugewanderter, dunkel, gut aussehend, gestylt und mit tollem Wagen. Woyzeck hingegen wird durch die Schufterei unter der Erde, die Pillen-Tortur, die sein Körper durchleidet, von Tag zu Tag grauer. Und er spürt Maries Verrat. Am letzten Tag des Pillenschluckens und nach der großen Lohnauszahlung wird er zum Täter.

Eine elendere Figur als den „Woyzeck“ hatte es bis zu Büchners Dramenfragment auf der Bühne nicht gegeben. Am 8. November 1913 war die Uraufführung am Münchner Residenztheater. Dass der Woyzeck des Films einem hundert Jahre später so bedrückend nahe kommt in seinem völligen Scheitern und Zerbrechen, liegt vor allem an der großartigen Leistung Tom Schillings, der in seiner Fragilität und somnambulen Bewegungsweise genau das Maß findet, das es braucht, um ständig zwischen Wahn und Normalität zu balancieren.

Es liegt aber auch daran, dass Regisseur Calis sich äußerlich auf einen Boden wagt, der mit Vorurteilen und Ängsten nur so übersät ist. Calis provoziert bewusst, aber er tut dies, ohne zu werten. Denn in seinem „Woyzeck“ geht es auch um die deutsche Identität. Franz Woyzeck ist im Wedding oder in Neukölln als „der Deutsche“ in der Minderheit. Christlich-abendländische Werte, Gesetze der Demokratie gelten nicht in dieser Welt. Mächtige Männer mit Migrationshintergrund haben ihren eigenen Wertekanon, und sie haben das Sagen: über die Frauen, das Geld, über sozialen Aufstieg und Fall eines Jeden im Viertel, ja, letztlich über Leben und Tod. Wer sich nicht anpasst, geht unter.

Beide Welten krachen in diesem sehr sehenswerten Woyzeck-Film ständig aneinander, reiben sich, suchen wieder den Abstand. Von Integration kann keine Rede sein. Und Ausbruch? Ausbrechen ist nicht möglich. Landschaft, See und Stille bleiben Traumbild. Büchners Soldatenmilieu scheint am Ende nur durch tonlose Fernsehbilder im Versuchslabor des Doktors auf, der an Kaltblütigkeit kaum zu überbieten ist. Da werden im Hintergrund die Särge deutscher Soldaten in ein Flugzeug verladen. Gefallen in der Fremde fürs Vaterland. Aber was ist Fremde? Und was: das Vaterland?

Woyzeck, Arte, Montag, 14. Oktober, 22.40 Uhr; 3sat, Samstag, 19. Oktober, 22Uhr.zur StartseiteDiskussion zu diesem Artikel auf: Rivva

©SZ vom 14.10.2013/ahem

Theaterfilm bei Arte

Woyzeck im Wedding

Das Artifizielle und das Naturalistische: Zu Georg Büchners 200. Geburtstag zeigt Arte eine „Woyzeck“-Filmfassung des Theaterregisseurs Nuran David Callis.

Was kann Woyzeck (Tom Schilling) Frau und Kind bieten?Bild: Oliver Vaccaro/Arte/ZDF

Es ist noch immer ein Wagnis, das Artifizielle und das Naturalistische so miteinander zu verschränken, wie es sich der Regisseur Nuran David Calis in seiner Filmfassung von Georg Büchners Drama „Woyzeck“ traut. Kunstsprache in einem der Wirklichkeit abgeschauten Milieu; poetische Sentenzen über den Verlust der Wirklichkeit mitten unter den Müllsammlern in den Tunnels der U-Bahn; Figuren, die wie auf einem einsamen Zeitstrahl gereist erscheinen mitten in dem Gewimmel einer Einkaufsstraße.

Wann hat man denn so etwas schon gesehen? In alten Fassbinderfilmen vielleicht? Eben wenn Theaterleute sich in den Film begeben.Anzeige

Der „Woyzeck“ von Nuran David Calis ist ein ungeheuer trauriger und bedrückender Film. Wie in Trance, wie in einer Blase voller Einsamkeit gefangen, bewegen sich Woyzeck (Tom Schilling) und seine Freundin Marie (Nora von Waldstätten) zwischen ihren Mitmenschen. Warum das bei Woyzeck so ist, das erklärt einerseits seine Geschichte: Er sammelt unter Tage mit zwei Kumpels den Dreck in der U-Bahn, er jobbt in einem Restaurant in der Küche, und er schluckt Pillen in einer medizinischen Versuchsreihe.

Kein Wunder, dass er halluziniert, sich verlangsamt, seine Wahrnehmung sich verschiebt und er Stimmen aus dem Jenseits hört. Marie wiederum leidet an seiner Unerreichbarkeit. Aber wenn sie so voreinander stehen, gespannt und vibrirend von den Worten, die ungesagt bleiben, in ihrer engen Wohnung oder in einem Hinterhof, dann sieht man andererseits auch immer zwei Bühnenfiguren, die es hinausgeschleudert hat in eine vielfach beschleunigte Welt.

Die Verbindung von klassischem Drama und Gegenwart

Das Experiment, die Sprache und die emotionale Intensität der klassischen Dramen mit dem Gefühlshaushalt und den kulturellen Codes der Gegenwart zusammenzubringen, betreibt Nuran David Calis im Theater schon seit etwas mehr als zehn Jahren. Er hat mit Schülergruppen und jungen Leuten aus randständigen Stadtvierteln eigene Geschichten für die Bühne erarbeitet, Hiphop mit „Romeo und Julia“ verbunden, Migrationsgeschichten von mehreren Generationen gesammelt und Stoffe von Wedekind und Schiller mit sehr jungen Schauspielern umgesetzt.

Das alles geschah auch unter dem Vorzeichen, das Disparate nebeneinander bestehender Welten zumindest durch Neugierde und ein teils auch naives Ausprobieren miteinander zu verketten. Es blieb aber ein Nebeneinander, eine Welt aus Fragmenten.

In seinem Theaterfilm „Woyzeck“ setzt er diesen Weg fort und geht noch ein Stückchen weiter: Denn jetzt baut er eine geschlossene, ja sogar klaustrophobisch verengte Welt aus diesen Elementen. Sein Woyzeck, das ist white trash; die ihn schickanieren, die coolen Zuhälter, Religiösität heuchelnde Restaurantbesitzer, der mit Drogen handelnde Arzt, sind die Fürsten in einem mafiös organisierten Kiez.

Gedreht wurde in Berlin-Wedding und tatsächlich hat Nuran David Calis diesen Ort bewusst gewählt. Weil er, der ob seiner migrantischen Herkunft aus einer armenisch-jüdischen Familie immer wieder in Diskurse um Minderheiten gesteckt wurde, einer der wenigen Regisseure mit Migrationshintergrund am Stadttheater, nun eine weitere Drehung suchte. „Ich brauchte einen Menschen, der eine Minderheit in einer Minderheit darstellt“, sagt er in der Arte-Information zum Film. „In Berlin-Wedding ist ‚der Deutsche‘ in jeder Hinsicht in der Minderheit.“

Büchners raue Seite

Nuran David Calis will diesen Umstand zwar nicht werten. Aber natürlich nimmt die Erzählung des Woyzeck-Stoffs immer gegen dessen Peiniger ein. Es ist deshalb einfach, diese als Karikaturen der Repräsentanten gesellschaftlicher Macht zu stilisieren, was viele Theaterinszenierungen auch tun. Aber so einfach lässt Calis seine Zuschauer nicht davonkommen.

Die Produktion gehört zu einem Büchnerkulturprojekt, für das der 200. Geburtstag des Dichters und Dramatikers am 17. Oktober Anlass ist. Leicht macht es sich Arte mit dieser Büchner-Verfilmung nicht, eher bringt sie das Raue, sich quer zum Konsens Stellende des Dichters wieder in Erinnerung.

Schlagworte: FILM

Woyzeck (1979) FILMDIENST – Kritik

Credits

BuchWerner Herzog
DarstellerKlaus Kinski (Woyzeck) 
Eva Mattes (Marie) 
Wolfgang Reichmann (Hauptmann) 
Willy Semmelrogge (Doktor) 
Josef Bierbichler (Tambourmajor) 
Volker Prechtel
Dauer81
Jahr1979
KameraJörg Schmidt-Reitwein
ProduktionslandBR Deutschland
MusikFiedelquartett Telc, u.a.
ProduktionHerzog
ProduzentWerner Herzog
RegieWerner Herzog
SchnittBeate Mainka-Jellinghaus
VerleihFilmverlag der Autoren
FD-Ausgabe12/1979

Inhalt

Weithin vorlagegetreue Verfilmung des berühmten Dramenfragments. Herzog bleibt mit der Wahl des Stoffes einem Grundzug seiner Filme, dem Interesse an und dem Plädoyer für die isolierte und leidende Kreatur, treu. Exzellente schauspielerische Leistungen können allerdings kaum mit der Enttäuschung darüber versöhnen, daß diese „Woyzeck“-Vision allzu stilisiert und damit auch weithin unfilmisch-blutleer ist.

Kritik

Innerhalb der Geschichte des deutschen Dramas markiert das zu Lebzeiten Georg Büchners nicht aufgeführte, da unvollendete Stück „Woyzeck“ den Beginn des sozialen Dramas. Mit der Gestalt des Franz Woyzeck wurde dem Theater ein gänzlich neuer Typus zugeführt; selbst im Bürgerlichen Trauerspiel war dem in der sozialen Hierachie ganz unten Existierenden mehr als marginale Funktion nie zugestanden worden. Das erst 1879 veröffentlichte Fragment beeindruckte Publikum und Künstler enorm: Heute gilt „Woyzeck“ als meistgespieltes Theaterstück des 19. Jahrhunderts, an dem sich immer wieder die inszenatorische Phantasie der jüngsten wie der arriviertesten Bühnenregisseure versucht. Gründe sind neben anderen insbesondere die aus dem Fragmentarischen erwachsende Lapidarität, das nach wie vor ungeklärte Motivationsgeflecht des Stücks und das Interesse an der Hauptfigur. In dieser wird auf die unterdrückte, die „kurzgehaltene“ Schicht derer gezeigt, die dienend ausgenutzt und zum Objekt nüchtern-zynischer Untersuchung dessen werden, was der Gattung Mensch eigentlich zugetraut und zugemutet werden kann.

Von solch revolutionärer Bedeutung wie zur Zeit Büchners für das deutsche Drama und auch noch vor dem Ersten Weltkrieg zur Zeit der ersten Aufführung (München 1913) für das geistige Klima im Vorkriegsdeutschland und -europa ist der Stoff heute sicherlich nicht mehr. Das soziale Drama ist seit dem Naturalismus vielfältig und intensiv weiterentwickelt worden. Insofern schockiert die Tatsache des Interesses am „Unterschicht“-Milieu heute nicht. Gerade dies kann die Faszination für Herzog ausgemacht haben, der nicht an der historischen Figur der Kriminalgeschichte Franz Woyzecks und nicht an der quasi-historischen Gestalt des Theatertypus Woyzeck interessiert ist. Woyzeck ist mittlerweile Symbolfigur geworden für Unmenschlichkeit schlechthin. Unterdrückung und Knechtung der wehrlosen Kreatur wird in der Person Woyzecks angeprangert. Schon zu Beginn der Filmerzählung wird der ausgemergelte und japsende Soldat Woyzeck beim „Geschliffenwerden“ gezeigt: Das Ende der Sequenz und damit Grundthema überhaupt für dessen Geschichte ist der Stiefel, der den erschöpft Daliegenden noch in den Staub tritt. Sein Hauptmann amüsiert sich über ihn. Der Arzt experimentiert an ihm herum. Marie, mit der er ein Kind hat, ist offen auch für das Interesse anderer Männer. Der Tambourmajor sticht Woyzeck aus. Woyzeck ist Getriebener, Gehetzter, Aufgestachelter. Er wird in den Mord an Marie getrieben und sucht dann selbst den Tod.

Solches Schicksal derer da unten erinnert an „Stroszek“, an Kaspar Hauser („Jeder für sich und Gott gegen alle“), an die Behinderten, die Blinden und Taubstummen aus frühen Filmen Herzogs. Aus grundsätzlichem, humanitärem Interesse wird „Woyzeck“ als klassischer Stoff herangezogen: Zu jeder Zeit wird „Woyzeck“ aufklärerisch und anklägerisch wirken. Dafür hat Herzog allerdings einen fast zu „schönen“ Film geschaffen. Das Städtchen in der Tschechoslowakei, das er als Hintergrund wählte, ist eine Bilderbuchkulisse von großem (optischen und städtebaulichem) Reiz. Außer den Vorspann-Sequenzen weist nahezu nichts auf die deprimierende Soldatenexistenz Woyzecks hin. Der Jahrmarkt bleibt unwirklich, weil er aus zu wenigen Menschen besteht. Die Kneipenszene erinnert mehr an stilisierte Liebhaberaufführungen denn an lebensvolle Wirklichkeit von Bierdunst und Tänzerschweiß. Auch die Zeitlupenphase gegen Ende des Dramas zitiert mehr – hier aus filmtechnischer Tradition -, als daß sie eine neue Dimension von schrecklicher Wirklichkeit schüfe. So liefert Herzog einen Theaterfilm von erstaunlicher Textauthentizität, in dem kaum mehr Personen agieren als auf jeder Woyzeck-Bühne. Allerdings werden diese von hervorragenden Schauspielern dargestellt: Klaus Kinski und die in Cannes für die Rolle der Marie ausgezeichnete Eva Mattes ragen besonders heraus. Wenn dieser Film verstanden wird als Möglichkeit, den Bühnenstoff auch theaterfernem Publikum zu vermitteln, so kann von einem hervorragenden Unternehmen gesprochen werden. Wer nach einer filmspezifischen Erweiterung der Bühnendimension von „Woyzeck“ sucht, wird gründlich enttäuscht.

AutorReinhold Jacobi

Woyzeck (1979)

siehe auch

Personen

Quellenangabe: Eintrag „Woyzeck (1979)“ in Munzinger Online/Film – Kritiken aus dem FILMDIENST, URL: http://www.munzinger.de/document/10000022044 (abgerufen von Verbund der Öffentlichen Bibliotheken Berlins am 30.3.2019)

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